Notfall
Baby Nummer vier
Dunkel muss es gewesen sein, vielleicht kalt, gegen Mitternacht oder etwas später, vielleicht hat der Wind geweht, eisig, vielleicht hat es geregnet. So oder ähnlich muss es sein, gewesen sein, irgendwie, wenn ein Kind in die Babyklappe gelegt wird, denkt man. Dass es auch mitten am helllichten Tag passiert, mitten im Sommer, mitten im Leben, darauf käme man nicht, das passt nicht in den Kopf. Und trotzdem war es genau so. Und nicht nur bei Baby Nummer vier, dessen Geschichte wir hier erzählen. Denn Verzweiflung kennt keine Tageszeit und kein Wetter. Keiner weiss, woher das Baby kam, das am 1. August 2008 in die Babyklappe gelegt wurde, mitten am Tag und im Sommer, in Einsiedeln, wo das einzige Spital mit Babyfenster in der Schweiz steht. Keiner weiss, wie lange die Reise war. Sicher aber wird sie nie enden. Nicht im Kopf der Mutter. «Wahrscheinlich konnte sie es nicht verschieben», sagt Hebamme Sonja Erny, «unerträglich vermutlich, noch länger dieses Baby zu halten, um es dann doch wegzugeben, weggeben zu müssen.» Die Gefühle, denen kann man nachspüren, über die Gründe aber kann man nur spekulieren: Warum werden die Babys weggegeben? Warum auf diese Weise? Denn andere Möglichkeiten gäbe es auch.
Grosse Not
Das Spital Einsiedeln: Ein kleines Spital, der Notfallzugang gleich neben dem Haupteingang. Das langgezogene Gebäude bietet 65 Patienten ein Bett. Etwa 250 Babys kommen hier pro Jahr zur Welt. Die Babyklappe befindet sich auf der Stirnseite, gleich am Anfang des Gebäudes. Ein kleiner Weg führt zum Babyfenster, das, eingebaut in die Mauer, vier Meter vom Parkplatz entfernt ist. Gleich neben dem Gebäude zieht sich ein Hügel in die Höhe, dunkel, gewaltig, breit und schwer, zuoberst steht ein Kreuz aus Holz, schief, durchgerüttelt von Wind und Wetter. Es ist still hier, etwas ab vom Dorfkern. Ein paar alte Schwyzer Holzhäuser, daneben ein paar moderne Neubauten. Auf dem Hügel etwas weiter rechts strotzen unübersehbar, herausgeputzt und gewaltig, vier Sprungschanzen. Sie tragen die Namen der Skispringer Simon Ammann und Andreas Küttel, Einsiedler der eine, Schwyzer beide, Stolz der Bergregion. Warum die Babyklappe vor genau 10 Jahren ausgerechnet hier installiert wurde, in diesem abgelegenen, hügeligen Dorf, Kilometer weit entfernt von der Agglomeration, hat seinen Grund: Der damalige Belegarzt der Gynäkologie, Werner Förster, und die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind machten sich stark dafür. Anfangs gabs einen Riesenwirbel um die Babyklappe, die zum Muttertag 2001 eröffnet wurde. Dann wurde es ruhig.
Die zweite Geburt
Der Alarm schrillt durch die beschauliche Feiertagsstimmung dieses 1. Augustes 2008, ein durchdringender pfeifender Ton, der auf dem Hebammenhandy losgeht, während aus den Gärten Rauch von gegrilltem Fleisch aufsteigt, Kinder Knaller krachen lassen, Schweizer Fahnen im Wind wehen, Politiker die richtigen Worte suchen. Auf dem Display steht «Babyfenster». Hebamme Sonja Erny geht sofort los, die Treppe runter, am Empfang vorbei, gemächlichen Schrittes, so gut es eben geht, denn eigentlich müsste sie rennen, jetzt, mit all dem Adrenalin, das durch die Adern geschossen ist. Doch die Mitarbeiterinnen sind angehalten, ruhig zu bleiben in so einem Fall, auch wenn es innen drin zum Zerreissen vibriert. Weil keiner merken darf, weder Besucher noch Patienten, was gerade geschehen ist dort draussen. Sonja Erny geht weiter den Korridor entlang, endlos erscheint er in diesem Moment zum Babyfenster. Hinter einem Paravan, der als Sichtschutz dienen soll, steht eine Plexiglasbox, per Schloss gesichert. In dieser Box steht ein Bettchen – und drin liegt ein Baby. Das Baby Nummer vier.
Nathalie Bissig
Seit Bestehen des Babyfensters im Spital Einsiedeln wurden sechs Babys hineingelegt. Vier von ihnen tagsüber, zwei in der Nacht. In der Babyklappe liegt immer ein Brief: «An die Mutter», steht auf dem Couvert. Mit diesem Brief will man den Müttern Mut machen, sich zu melden, informiert über die Möglichkeiten dazu, sichert ihr Anonymität und somit Straffreiheit zu. Man fordert sie unter anderem auf, dem Kind einen Namen zu geben, vielleicht auch eine verschlossene Nachricht zu hinterlassen, mit Hinweisen zu der Herkunft des Babys. «Eine solche Nachricht», steht im Brief unter anderem, «können Sie uns auch im Nachhinein zusenden. Diese wird für das Kind aufbewahrt, bis es volljährig ist.» Der Brief ist in zehn Sprachen übersetzt. Er wurde bisher immer mitgenommen. Laut der Babyfenster-Internetseite haben drei Kinder aufgrund des «Brief an die Mutter» im Nachhinein Informationen über ihre Herkunft erhalten. In einem Fall wurde ein Baby von den Eltern gar zurückgeholt. Für die fünf anderen Kinder wurde eine Adoptivfamilie gefunden.
Mehr dazu unter www.babyfenster.ch
Ohne Wurzeln
Es ist Sonja Ernys erstes Babyfenster-Kind. Ein kleiner
Mensch, höchstens ein paar Tage alt, von einer Minute zur anderen
entwurzelt, ohne Vergangenheit, mit ungewisser Zukunft.
«Ein extremer
Moment», sagt die Hebamme, «aufwühlend, emotional.
» Doch dieser Film spielt sich in Sekunden ab, sie hat keine
Zeit, sie muss handeln: Alarm ausschalten, Box per Schlüssel öffnen.
«Der erste Blick fällt auf die Hautfarbe», sagt Erny, «ist sie
rosa, ist es schon mal gut.» Rosa heisst, das Kind atmet gut, hat
genügend Sauerstoff. Sie hebt das Baby aus dem Bettchen, aus der
Box heraus. Eine zweite Geburt.
Drei Minuten sind vergangen, seitdem das Fenster von aussen
geschlossen und gleichzeitig automatisch verriegelt wurde. Verriegelt,
damit kein Unbefugter Zugriff auf das Baby hat. Drei Minuten
Zeit also, um wegzugehen, sich zu entfernen, anonym, unbemerkt.
Nach diesen drei Minuten geht der Alarm los. Ist Sonja
Erny rausgegangen, um nachzuschauen, ob sie die Person, die
Mutter wahrscheinlich, noch sieht, ob sie sie anhalten kann, mit
ihr reden? «Nein, das tun wir nicht. Wir respektieren diese Entscheidung
», sagt die Hebamme. «Es ist nur zu hoffen, dass es
auch wirklich die Mütter sind, die die Kinder ins Fenster legen,
dass es ihre Entscheidungen sind.» Sich vorzustellen, dass es gegen
den Willen der Mütter geschehe, sei unerträglich.
Ohne Tränen
Hat das Baby geweint? Lag es aufgeregt, verstört gar in diesem
Bettchen, in dieser Box? «Es ist ganz seltsam», sagt die Hebamme,
«aber alle sechs Babyfensterkinder waren bisher auffällig
ruhig.» Auch die Tage danach, die sie im Spital verbringen. «Sie schlafen, schauen zufrieden herum,
weinen nur wenn sie Hunger haben,
niemals sonst. Es ist, als wenn sie
wissen
würden, dass kein Mami da ist,
als wenn sie denken würden, ich fahre
am besten, wenn ich möglichst ruhig
bin.» Erstaunlich sei dieses Verhalten,
weil man annehmen müsse, dass
vermutlich
schon die Schwangerschaft
und sicher auch die Geburt stressig
gewesen
sein dürften. «Die Frauen gebären
mit grösster Wahrscheinlichkeit
alleine, jedenfalls nicht in einem geschützten
Rahmen einer Klinik oder
eines
Geburtshauses.
» Das weiss man,
weil die Kinder nicht fachgerecht abgenabelt
wurden. Normalerweise seien
Neugeborene nach stressigen Geburten
eher weinerlich, bräuchten viel Nähe
und Zuwendung. Die Babyklappenkinder
nicht. Die Hebamme schüttelt den Kopf: «Wir haben intern
schon oft darüber diskutiert. Es ist ein Rätsel.»
Ohne Geschichte
Persönliches darf die Hebamme über das Kind, das sie aus der Klappe in die Welt geholt hat, nicht erzählen. Nicht den Namen, den die Mutter ihrem Kind vielleicht auf den Weg gegeben hat. Nicht ob ein Brief dabei war, eine Erinnerung, ein Kuscheltier. «Zum Schutz des Babys bleibt das alles unter Verschluss», sagt Erny. Eines aber kann sie sagen: «Alle Babys sind immer liebevoll in eine Decke oder ein Tuch gewickelt gewesen. Man hat gemerkt, dass die Kinder den Eltern nicht egal sind.» Das 1. August- Baby sei gar vollständig bekleidet gewesen. «Und es hatte Schoppenpulver dabei. Bei diesem Kind spürte man viel Fürsorge.» Wenn die Kinder volljährig sind, werden ihnen die Briefe, die Kleider, die persönlichen Gegenstände übergeben, die sie bei sich hatten, damals, am Tag ihrer zweiten Geburt.
Liebe auf Zeit
Baby Nummer vier geht es gut. Darum bringt es Sonja Erny nicht auf die Notfallstation, sondern ins Stillzimmer, wieder den Korridor entlang, am Empfang vorbei, mit dem Lift auf die Wochenbettstation. Merken tut keiner was. Im Stillzimmer wird das Baby genau untersucht, diverse Tests und Checks müssen gemacht werden, weil man nichts weiss über die Geschichte des Babys, nichts über die Geburt, die Mutter, die Schwangerschaft, über Krankheiten oder Süchte. «Ja, es ist schon viel, was das Kleine am Anfang mitmachen muss», sagt Sonja Erny, «doch wir nehmen uns Zeit, machen Pausen und halten das Baby, trösten es, wenn es weint.» Zwei Stunden später treffen Vertreter der Vormundschaftsbehörde ein – der Präsident Ressort Soziales und die Vormundschaftssekretärin Alexandra Reichmuth. Sie war bisher bei jedem Babyfensterkind mit dabei. Noch vor Ort bestimmt der Präsident einen Vormund für das Baby, einen von insgesamt fünf, die in Einsiedeln tätig sind. Trifft etwas Unvorhergesehenes ein oder wird das Baby krank, braucht es jemanden, der Entscheidungen trifft. Entscheidungen im Namen des Kindes, das noch keinen Namen hat. Dann wird bestimmt, wann die Meldung an die Presse rausgeht, und dann ist es öffentlich.
Das Baby bleibt höchstens ein paar Tage im Spital. Dort wird es abgeschottet von den Blicken der Neugierigen, die kommen, sehen wollen, wie so ein «Klappen-Baby» aussieht. Die Hebammen und Pflegefachfrauen der Wochenbettstation kümmern sich besonders um diese Kinder: «Ich weiss, dass man sich emotional nicht einlassen soll, das ist nicht professionell. Aber mit diesen Babys ist es halt etwas anderes», sagt Sonja Erny. Sie gibt ihnen gerne Nähe und Geborgenheit. «Sie sind so allein.» Dem Baby Nummer vier hat sie von seiner Mutter erzählt: «Deine Mama hat dich sehr lieb gehabt. Gerade darum hat sie dich zu uns gebracht. Du hast jetzt gerade niemanden auf der Welt, der dich will. Aber wir schauen für dich, du darfst jetzt bei uns sein», sagt sie zu dem Baby. «Und dann kommen ganz liebe Leute und alles wird gut.»
Sonja Erny hat Tränen in den Augen. Damals wie heute. Und wohl auch am Abschiedstag, als sie dem Baby neue Kleider angezogen hat, mit dem Kind geplaudert, mit ihm gelacht hat. «Innen drin», sagt sie, «ist man einfach nur traurig.» Der Vormund hat seinen Job gemacht. Auf Empfehlung der Fachstelle Adoption in Zürich wurde eine Übergangspflegefamilie bestimmt, «eine gute, erfahrene Familie», sagt Gerhard Villiger, der aktuelle Präsident Ressort Soziales. Diese Leute werden sich um das Kleine kümmern. Solange, bis die Adoptiveltern feststehen. Die Hebamme nimmt das Baby und übergibt es der Vormundschaftssekretärin Alexandra Reichmuth. Für Erny ist es ein Abschied für immer und eine Erinnerung, die bleibt. Was man damit macht? «Ich laufe», sagt sie.
Nathalie Bissig
Das erste und bisher einzige Babyfenster in der Schweiz wurde vom Spital Einsiedeln und der Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind SHMK am Muttertag 2001 eröffnet. Nun sind weitere Babyfenster im Gespräch. Zwar gibt es laut Dominik Müggler, Präsident der Basler Stiftung, noch nichts Konkretes zu vermelden; es bestünden jedoch gute Kontakte zu mehreren Spitälern. Unter anderem habe sich das Spital Zollikerberg (ZH) interessiert gezeigt. Müggler ist der Meinung, dass es mindestens je ein Babyfenster in der Westschweiz und im Tessin und zwei bis drei in der Deutschschweiz geben müsste. Und er ist zuversichtlich: «Ich denke, dass es bis 2014 in der Schweiz mehrere Babyfenster geben wird.»
Schwere Entscheidung
Baby Nummer vier lebt bei seinen Pflegeeltern. Für zwei bis sechs Wochen, je nachdem. Es hat nun einen Namen bekommen von der Vormundschaftsbehörde. Einen Vornamen und einen Nachnamen, das Kind muss offiziell ins Zivilstandsregister eingetragen werden können. «Wir wählen nichts Exotisches», sagt Gerhard Villiger, «einfach einen zeitgemässen Namen.» Und wenn die Mütter dem Baby einen Namen mitgegeben haben? Respektiert man dann ihren Wunsch? «Das kam auch schon vor, ja, wir haben dann diesen Namen gewählt», so Villiger. Doch das heisse noch lange nicht, dass der Name bleibe, denn die Adoptiveltern könnten später eine Namensänderung beantragen. Drei bis fünf Dossiers von potenziellen Adoptiveltern werden dem Vormund übergeben, ausgewählt von der Fachstelle Adoption. Der Vormund ist es, der entscheidet, wer das Baby bekommt – eine schwierige Entscheidung. Eine Entscheidung über die Richtung, den Weg, die Zukunft, die Geschichte des Kindes und die Geschichte der Paare, die sich wahrscheinlich nichts mehr wünschen als ein Baby. Doch die sich gleichzeitig bewusst sein müssen, dass sie dieses Baby erst mal auf Zeit zu sich nehmen. Denn definitiv adoptiert werden kann das Kind erst, wenn es genau ein Jahr bei den potenziellen Adoptiveltern war. Bis dahin kann sich die Mutter melden, kann ihr Kind zurückfordern, sofern die Voraussetzungen gegeben sind. Mit dem ausgewählten Adoptionspaar finden erste, sachte Kontakte statt, man trifft sich im Beisein der Pflegefamilie, des Vormunds und der Fachstelle Adoption. Und dann, irgendwann, wird das Kind übergeben. Baby Nummer vier ist angekommen.
Ein Ende am Anfang
Ob es Richtung Westen gegangen ist, Richtung Süden, ob es heute gleich nebenan lebt, in der Nachbarschaft, man weiss es nicht. Klar ist nur, dass es in der Schweiz geblieben ist. Und so endet die Geschichte von Baby Nummer vier da, wo sich seine Spur verliert. Es ist ein Ende am Anfang einer neuen Geschichte.