Gesellschaft
«Auch die Liebe braucht Überstunden»
wir eltern: Herr Riklin, haben Sie genug Zeit für das Gespräch oder setze ich Sie unter Stress?
Mark Riklin: Nein, Sie stressen mich überhaupt nicht. Ich habe mit Ihnen gerechnet und den Termin eingeplant.
Eingeplant, verplant, organisiert – das scheint nicht so recht zu einem Verein zur Verzögerung der Zeit zu passen.
Und genau dieses vermeintliche Nichtpassen passt zum Verein zur Verzögerung der Zeit, der seit bald 25 Jahren mit heiterem Ernst irritiert. Immer mehr Menschen rennen mit Scheuklappen durchs eigene Leben, als ob es darum ginge, möglichst schnell damit fertig zu sein, ganz nach dem Motto «Wer früher stirbt, ist länger tot». Gemeinsam wollen wir den gesellschaftlichen Umgang mit Zeit hinterfragen und darüber nachdenken, wer eigentlich wem davon rennt: die Zeit uns oder wir der Zeit.
Derzeit liegen Sie im Trend. Wellness Magazine boomen, Entspannungsmethoden und Gemütlichkeit sind gefragt wie nie. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Auf jeden Trend folgt irgendwann ein Gegentrend. In den letzten Jahrzehnten haben sich ermutigende Initiativen und Bewegungen entwickelt: Slow Food, Slow City, Slow Media … Das Bedürfnis, aus dem Hamsterrad auszubrechen, scheint zu wachsen. Immer mehr Menschen haben die Sehnsucht, sich aufs Wesentliche zu reduzieren, sich Zeit statt das Leben zu nehmen. Längerfristig bleibt uns gar keine andere Wahl, steuern wir doch sonst auf einen Zeitkollaps zu.
Kollaps? Können Sie das erklären?
Wenn Postboten zu Zustellern degradiert werden, Pflege-Fachleute das Gespräch aus Zeitgründen Ehrenamtlichen überlassen müssen, Menschen am eigenen Geschichtenstau zu ersticken drohen, weil niemand mehr Zeit hat, ihnen zuzuhören, ist dies Anlass zur Sorge. Unsere Gesellschaft leidet unter einer Funktionalisierung des Alltags, die bereits bei kleinen Kindern beginnt, die früh mit Antworten überfüttert werden, nach denen sie nie gefragt haben.
Aber was ist die Lösung? Langsamkeit?
Langsamkeit ist kein Wert an sich, Verzögerung ebenso wenig. Es geht vielmehr um die Kunst, auf der Klaviatur unterschiedlicher Tempi zu spielen. Und einen Respekt vor Tempo und Rhythmus anderer Menschen zu entwickeln. «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», heisst es in einem afrikanischen Sprichwort. Ganz im Gegenteil – es droht Entwurzelung. Genauso verhält es sich auch mit Kindern, die einen eigenen inneren Fahrplan und ein angeborenes Tempo haben, in dem sie ernstgenommen werden wollen. Kinder sehnen sich nach unverplanter Zeit zum Träumen, Trödeln und Spielen – ein rar gewordenes Gut in einer beschleunigten Leistungsgesellschaft.
Aber was kann man konkret tun?
Vom Ende des eigenen Lebens her denken. Als Inspiration kann das Buch «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» der australischen Krankenschwester Bronnie Ware dienen, die Menschen auf dem Totenbett befragt hat. Männer bedauerten ausnahmslos, dass sie so viel Zeit gearbeitet haben, statt die Kindheit ihres Nachwuchses und die Gesellschaft ihrer Lebenspartner zu erleben. Auch die Liebe braucht Überstunden.
Was machen Sie selbst, um zwischen Beruf, Familie und ihrem Engagement für diverse Projekte nicht zerrieben zu werden?
Als erstes muss ich eingestehen, dass ich immer wieder in Tempofallen tappe, zu schnell unterwegs bin oder meinen Alltag überlade. Immer dann wenn meine Distanz zu mir selber schmilzt, ich nicht mehr über meine eigenen Fehler lachen kann, ist es höchste Zeit, über die Bücher zu gehen. Ich lerne und übe noch, ich befinde mich wohl in einem lebenslangen Trainingslager. Dazu gehören kleine Versuche im Alltag, gemeinsam mit meiner Frau: das abendliche Küchen-Gespräch über Kind und Kegel, das wöchentliche Feierabendbier, ein Nachtspaziergang bei Vollmond ... Manchmal gelingt es besser, manchmal weniger. Für meine eigene Seelenhygiene schreibe ich zudem in mein Logbuch, eine Art Navigationsinstrument auf dem Ozean des Lebens. Schreiben macht ruhig und bringt Ordnung in die Gedanken.
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Mark Riklin (49) ist Pädagoge, Soziologe und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule St. Gallen, zweifacher Vater und – Schweizer Landesvertreter des Vereins zur Verzögerung der Zeit. Ein kaum zeitraubendes Interview.