Alternative Lebensformen
Alp hilft heilen
Die Familienmitglieder:
Hofstetter (42) mit Sebastian (13) , Loris (6 ½), Liora (1 ½) und Sven* (27), der seit der Schulzeit mit Depressionen zu kämpfen hat und jetzt bei der Familie auf der Alp lebt.
Wohnort:
Eggenalp, Zweisimmen, Kanton Bern.
Wohnform:
Bauernfamilie mit ständigen Gästen. Die Hofstetters nehmen regelmässig Menschen mit psychischen Schwierigkeiten bei sich auf, die mit ihnen leben und arbeiten.
Familienorganisation:
Alle packen mit an in Haus und Hof. In den Sommermonaten sind 100 Stunden Arbeit pro Woche für die Eltern keine Seltenheit.
Beginn des Modells:
Seit die Kinder da sind immer mal wieder.
Der Himmel blendet blau. Kohlweisslinge trudeln über die Wiesen. Kuhglocken liefern den Soundtrack, und die schneebemützten 2000er Rinderberg, Spillgerte und Chörbelihore bilden die Kulisse. Fehlen nur noch Holzhaus, blonde Bäuerin und rotwangige Kinder zur perfekten Idylle, denkt man unwillkürlich. Und da stehen sie auch schon: Anna Hofstetter, Bäuerin, Mutter von Sebastian (13), Loris (6 ½) und Liora (1 ½)– allesamt blond und rotwangig. Vor einem Holzhaus, klar. Eine Höchstdosis heile Welt, die es sonst nur im Bergkäse- Werbespot gibt. Nur da.
Denn wirkliches Leben wird nicht mit Fotoshop bearbeitet. Die Realität schraubt sich auch auf die 1333 Meter der Eggenalp hoch. Serpentine für Serpentine.
«Gut so», sagt Anna Hofstetter lachend, «Dinge zu sehen, wie sie nun mal sind, ist wichtig». Resolut säbelt die 34-Jährige Scheiben vom selbstgebackenen Brot, verfrachtet Liora ins Kinderstühlchen, stellt Zitronenkuchen, Käse, Nüsse auf den Tisch und ruft: «Sven*, kommst du auch zum Zvieri?»
Lautlos weht ein Mann herein, setzt sich mit gesenktem Blick und vielleicht lächelt er für einen Wimpernschlag. Vielleicht. So genau lässt sich das nicht sagen. Seit zwei Monaten lebt Sven bei den Hofstetters auf der Eggenalp: Als Klient. Der 27-Jährige ist schwer depressiv. Statt aus Knochen und Muskeln scheint er aus Nebel und Reif zu bestehen. Aufstehen? Eine Herausforderung. Sprechen? Eine Anstrengung. Lachen? Ein Erfolg.
Hier oben auf der Eggenalp soll Sven das Lachen lernen. Oder wenigstens anfangen zu ahnen, dass das Leben auch in anderen Farben als Grau zu haben ist und die quälend übergrosse Frage «Warum eigentlich bin ich auf dieser Welt?» auf handliches Format zusammenschnurrt, wenn 35 Kühe gemolken, eine Weide dornenfrei gerupft werden muss, und drei Kinder täglich drei Mahlzeiten und saubere Unterhosen im Schrank brauchen. Sinn gibts hier frei Haus: Menschen machen Käse. Vieh braucht Futter. Und eine Kohlrabi, die im Boden verfault, statt geerntet zu werden, fehlt im Topf. Noch Fragen? Keine.
Während im Kopf von Menschen mit Depressionen Grübeleien eine Dauerkarte haben, bleibt dafür auf der Alp keine Zeit, und die Natur bestimmt den Takt. Auch für Anna.
Aufstehen um 4.30 Uhr; 5 Uhr: 35 Kühe melken; 5.30 Uhr: in der Milchküche Käse und Joghurt ansetzen, dann spülen, Kinder wecken, Frühstück machen, Brote schmieren, zweimal zur Schule chauffieren (7.30 Sebastian, 8.20 Loris), Gemüsegarten abernten, einwecken, Käse mit Bürsten bearbeiten, sechs Maschinen Wäsche waschen, aufhängen, putzen. Dann ist Halbzeit. Allerdings ohne Halbzeitpause. Denn jetzt wird Mittagessen gekocht, Liora ins Bettchen gelegt, Brot gebacken, Sebastians Französisch- Vokis werden abgehört, die neu gelernten Wörter mit «L» von Loris im Schreibheft überprüft, die Buchführung von verkauftem Käse erledigt, Milch- und Fleischbestellungen organisiert, Zergeleien zwischen den Jungs geschlichtet, geglättet, geputzt, gefüttert, wieder gemolken ...
Wie war das nochmals mit dem Sinn des Lebens? 100 Stunden Arbeit in der Woche sind in den Sommermonaten für Anna Hofstetter normal. Wegschaffen ist da eher angesagt als Philosophieren.
Sven hilft wo er kann.
Wenn er kann.
Eingeplant ist seine Arbeitskraft nicht. Schliesslich ist er ja nicht als Knecht hier, sondern um gesund zu werden. Vermittelt hat den «Klienten» das «Projekt Alp». Grundlage des Projekts ist der Gedanke, dass Personen in seelischer Schieflage körperliche Arbeit gut tut, frische Luft, Kontakt zu Tieren und – bodenständigen Menschen. Menschen, die «sehr traurig» sagen statt «affektive Störung» und «los, jetzt mach aber mal voran» statt «ich spüre da eine gewisse Neurasthenie deinerseits». Denn ob es immer hilfreich ist, wenn Leute mit Problemen mit Leuten mit Problemen zusammenwohnen und miteinander über Probleme reden, daran zweifeln inzwischen sogar Fachleute.
Klar ersetzt auch bei den Alp-Klienten Melken kein Medikament und wöchentliche Gespräche mit Fachleuten des Projekts gehören selbstverständlich zum Behandlungskonzept; doch im Vordergrund steht das Vertrauen, dass auch die Natur ein guter Therapeut ist. Und sich die Kunst zu leben vielleicht am besten in einem einfachen Modell von Leben einüben lässt. Schliesslich lernen Kinder auch erst die Farben Rot, Gelb und Grün bevor sie sich an Mauve, Bordeaux oder Petrol versuchen.
Zusammen mit dem Projekt Alp entscheiden Psychologen, Ämter und Klient gemeinsam, für wen ein paar Wochen oder Monate zwischen Ställen, Weiden und Käsekellereine Krücke sein kann, um irgendwann wieder ohne Hilfe Tritt im normalen Alltag zu fassen. Zuvor werden auch die Familien überprüft. Denn wenn vielleicht die 90 Franken, die es pro Tag als Aufwandsentschädigung gibt, zunächst für manche Bauern mit serbelnden Landwirtschaftsbetrieben attraktiv aussehen mögen, so kann wohl kaum jemand abschätzen, was es bedeutet, einen Menschen mit brüchiger Seele rund um die Uhr im Haus zu haben.
Wie gut ist es zu ertragen, Tag und Nacht alle Türen im Haus offen zu lassen, weil die betreute Person Angstzustände hat? Wie stehts dann nach ein paar Wochen mit dem Liebesleben? Was ist mit der 14-Jährigen, die in Kette raucht und selten höflich ist? Wie umgehen mit dem Alkoholkranken, der heimlich ausbüxt und sturzbetrunken zurückkehrt? Wie hochschäumende Aggressionen händeln? Und vor allem: Was ist mit den eigenen Kindern? Sind Ex-Drogensüchtige und Schulverweigerer, schwer Erziehbare und Lebensüberdrüssige ein gutes Vorbild für die eigenen Jungen und Mädchen, die doch erst noch lernen sollen, wie die Welt tickt und dass es sich lohnt, sich auf sie einzulassen?
Gerhard Hofstetter wippt Liora auf seinen kräftigen Knien. Der 42-Jährige sieht aus, als hätte jemand den Ehrgeiz darein gesetzt, das exakte Gegenteil von Sven zu kreieren. Fröhliches rundes Gesicht, rote Wangen, ein beachtlicher Bauch, der beim Lachen hüpft, eine Stimme wie ein Alphorn. Wäre er nicht Bauer, könnte er auch als Weihnachtsmann anheuern. Vom gängigen Modell «intellektueller Gutmensch» ist Gerhard Hofstetter optisch in etwa so weit entfernt wie ein Wrestler von einem Balletttänzer. Aber ein guter Mensch, das ist er. «Wir wollen, dass unsere Kinder das Leben mit seinen hellen und dunklen Seiten kennenlernen. Dass sie tolerant allen Menschen gegenüber werden», sagt er, eine Pranke um Sebastians Schultern gelegt. Unsere Kinder sind für ihn unsere Kinder. Dass Sebastian genaugenommen einen anderen Vater hat, käme er nie auf die Idee zu erwähnen. Warum auch? Wem er Eishockey-Trikots kauft, die Haare wuschelt für eine gelungene Matheprüfung, Rinde vom Käse schneidet und versucht, klarzumachen, was Charakter und Anstand bedeuten, ist sein Kind. Punkt.
«Am Anfang war ich ja nicht begeistert, jemanden bei uns aufzunehmen», sagt er freimütig. «Das Geld können wir zwar ohne Frage gut gebrauchen, aber der Gedanke, dass da bei uns irgendwer Wildfremdes wohnt und man nicht einfach so in die Dusche huschen kann oder im Pyjama rumlaufen, hat mir erst mal gar nicht gefallen.» Anna musste eine Menge Überzeugungsarbeit leisten: Dass der finanzielle Zustupf ihr ermögliche, ein wenig zu verdienen und trotzdem ganz bei der Familie zu sein, dass sie als gelernte Lehrerin die Herausforderung, Menschen zu unterstützen, liebe, dass sie ständige Gäste schon als Kind in ihrer eigenen Familie erlebt und als Bereicherung empfunden habe. «Und», erzählt Gerhard Hofstetter, «dann hat sie noch gesagt, ‹Schatz, wir müssen von unserem schönen Leben etwas abgeben›». Der Bauer machte eine ein bisschen stolze Geste zu Schaukelpferd und Bilderbüchern, Weiden, Stall und Aussicht. Anna Hofstetter lächelt ihn an.
Anders als ihr Mann kennt sie Phasen im Leben, in denen das Glück wenig Interesse zeigte, auch mal bei ihr anzuklingeln. Erste Partnerschaft zerbrochen, Baby, kein Job, kaum Geld und der Eindruck, überall seien nur glatte Wände, die es unmöglich machen, aus dem Loch wieder herauszuklettern. Damals erinnerte ihr Leben sehr wenig an einen Werbespot. Doch nach ein paar knubbeligen Jahren traf sie auf einem Fest Gerhard wieder, den Freund aus Kindertagen. Und diesmal hatte der Ritter kein weisses Pferd, sondern 35 braune Kühe…
Gut, redet Sven nicht so viel
«Glück muss man teilen», sagt Anna Hofstetter. Und obwohl der Satz klingt. als habe ihn eine vom «Bachelor» in die Kamera gestammelt, hat er hier gar nichts Süssliches. Ob sie nicht ein wenig Angst habe vor einem möglichen schlechten Einfluss der Klienten – Sven ist immerhin schon der sechste – auf ihre Kinder? Anna Hofstetter guckt verständnislos. Für sie bedeutet erziehen: Kinder aufs Leben vorbereiten. Und das ist nun mal nicht uni rosa, sondern schwarzweiss gefleckt.
Auch Sebastian findet die Frage, wie er das denn so findet mit den Gästen, reichlich merkwürdig. Fast als ob man ihn gefragt hätte, wie er es findet, dass draussen Bienen summen. Achselzucken. «Sven wohnt hier.» Ausserdem sei es nur gut, dass Sven schweigsam ist: Da kann ich mehr reden.» Es nervt schon genug, dass Liora versucht, auf den Tisch zu krabbeln und Loris Storys aus der Schule erzählt, die nun wirklich unter dem Niveau eines 13-Jährigen sind. Sven mit seiner Zurückhaltung kommt da gerade recht. 5 Uhr. Fertig schwatzen. Die Hofstetters müssen melken. Sven und Loris bauen im Hof mit Brettern eine Velo-Sprungschanze. Zwischendurch pinkelt Loris, um nur ja keine Zeit zu verlieren, schnell in die Stallrinne, knapp an Liora vorbei, die vergnügt in der Stallgasse rumkrabbelt. Angst vor Bakterien und Hufen, Rindviechern und Kuhfladen? Nö.
Kennt hier niemand. Fast niemand. Denn so wirklich souverän reagiert die städtische Besucherin nicht, als ein sehr, sehr grosses Kalb anfängt, ihr den Reporterblock aus den Händen wegzufressen.
Und diesmal ist es sicher: Sven lächelt.
**Name von der Redaktion geändert*