ADHS
ADHS: Eine Mutter nimmt Ritalin
Von Rahel Iten
Das ADHS unserer Autorin blieb während Kindheit und Jugend unerkannt. Als zweifache Mutter stiess sie an ihre Grenzen und suchte ärztliche Hilfe. Hier schreibt sie über ihr Leben nach der überraschenden Diagnose.
Chaotisch, risikofreudig, dynamisch, laut, für jeden Spass zu haben. Dieses Ich, mein Ich soll nicht normal sein? Solche Gedanken rasen durch den Kopf, als mich mein Hausarzt fragt, ob ich schon mal an ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung gedacht habe. Bei mir – nicht bei meinem kleinen Sohn, der mich stark fordert. Ich hatte mich nach einem Jahr voller Hochs und Tiefs, mit Schreien, Heulen, Aggressionen und Überforderung hilfesuchend an den Arzt gewandt. Meine Vermutung: Depression. Seine: ADHS.
Es folgten unzählige Fragebögen, Multiple-Choice- Aufgaben und Sitzungen bei einer Psychiaterin, bis sie im April 2019 diagnostiziert: «Sie haben ganz klar ein ADHS, inklusive Hyperthermie, Hyperaktivität, Reizfilterschwäche, Schlafstörung, gestörter Impulskontrolle … halt allem, was dazu gehört.» Die Psychiaterin erklärt: «Sie konnten in den letzten Jahren gut damit leben, doch ihre Lebensumstände und Stressoren haben sich mit den Kindern und der Umgebung stark verändert. Ihre bisher unbewussten Strategien funktionieren so nicht mehr.»
Ein Name für das Gewirr in meinem Kopf
Endlich hat das Gewirr und Gewusel in meinem Kopf einen Namen. Zwar einen umstrittenen, aber immerhin. ADHS – das kannte ich bisher nur aus den Diskussionen diverser Mama-Communitys. Doch noch während der Abklärung wurde mir klar, ich leide im Moment an ADHS.
In dieser Zeit las ich mir viel Wissen an. Dass es keine rein psychische Erkrankung ist zum Beispiel. Es ist auch eine Dysfunktion bestimmter Regelkreise mit einem Über- oder Unterangebot von Botenstoffen in gewissen Hirnregionen. Bei ADHS sind dabei vor allem die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin von besonderer Bedeutung. Aufgrund der Stoffwechsel- und Funktionsstörungen im Gehirn bin ich nur eingeschränkt in der Lage, meine Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren.
Soll ich Ritalin nehmen?
Die Psychiaterin schlägt eine medikamentöse Behandlung vor: «Gerade ihre Reizbarkeit, ihre mangelnde Impulskontrolle und aggressiven Züge könnten wir gut mit Methylphenidat oder besser bekannt als Ritalin therapieren.» Ritalin. Diesen Namen darf man kaum laut aussprechen! Damit stellt man rebellierende Kinder ruhig. Natürlich bin ich skeptisch.
Nach einer zweiwöchigen Bedenkzeit mit viel Lesestoff entscheide ich mich für eine Ritalin-Eindosierung. Vielleicht aus Neugier, aber auch als Hoffnungsschimmer, mein emotionales Chaos endlich etwas regulieren zu können. Zuerst teste ich Medikinet. Eine von vielen Versionen von Ritalin. Medikinet hat eine Kurzzeitwirkung, nach 4–5 Stunden lässt die Wirkung nach. Zudem erhalte ich Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin D3, Magnesium und Omega 3.
Auf dem Nachhauseweg halte ich meine Tasche dicht an mich gepresst, mein Herz pocht. Das Wort Betäubungsmittelgesetz hängt mir nach. Es kommt mir vor, als würde ich verbotenen Stoff mit mir rumschleppen.
Ich starte mit einem Viertel einer Tablette pro Tag und steigere die Dosis nach Plan alle drei Tage. Schon der Viertel, das heisst fünf Milligramm, zeigt Wirkung. Ich werde ruhiger, geduldiger und auch mein innerer Unruhe-Zustand verbessert sich.
Meine erste Performance, die ich «auf Ritalin» hinlege: Ich paniere Plätzchen. Früher wurde die Küche gleich mitpaniert, ein Chaos auf dem Küchentresen, die Plätzchen unregelmässig farbig. Heute aber klappt alles wie am Schnürchen: Ich gehe das Kochen strukturiert an und mache alles Schritt für Schritt. Gleichmässig panierte Schnitzel, ebenmässig frittiert im heissen Öl. Arbeitsplatz nur minimal verunreinigt. Ich wundere mich ein bisschen.
Nach einigen Wochen habe ich meine optimale Dosis gefunden. Mit 50 Milligramm über den Tag verteilt fühle ich mich richtig gut, irgendwie entschleunigt. Geduldig warte ich, bis mein Sohn sich selbstständig angekleidet hat – zuvor eine Tortur. Ausdauernd ziehe ich mit meiner Tochter Puppen um – vorher landete die Puppe nach dreimal in der Ecke. Geschrei ist merklich weniger, ich bin glücklicher, ruhiger, studiere weniger an irgendwelchen Sachen herum, ich würde sogar behaupten, ich bin selbstbewusster geworden, mehr bei mir selbst.
Da es mit dem Medikinet so gut klappt, versuchen wir, nach einigen Wochen auf Concerta umzusteigen. Concerta hat eine Langzeitwirkung, das heisst, ich könnte nur eine Tablette am Tag nehmen anstelle von zwei bis drei pro Tag. Die ersten Tage «auf» Concerta fühle ich mich träge und schwermütig. Dazu entwickle ich paradoxerweise eine Hypersexualität, was schöner klingt, als es ist. Ich entscheide mich gegen den Dauerständer und bleibe vorerst bei Medikinet.
Psychiaterin hilft bei ADHS
Nur mit Medikamenten ist das Ganze nicht gelöst. Regelmässig gehe ich zu den Therapie-Sitzungen. Erstaunlich eigentlich, denn fixe Termine sind, ganz ADHS-like, nicht so mein Ding. Meine Psychiaterin meint übrigens, ich sei jetzt nicht ruhiggestellt, sondern auf normal gestellt. Gemeinsam erarbeiten wir neue Strategien für den Alltag. Ritalin löst zwar viel in meinem Gefühlsleben, nicht aber andere Nebenerscheinungen meines ADHS.
Zum Beispiel mein zwanghaftes Konsumverhalten. Budgetieren ist für mich sehr schwierig. Die neue Strategie dazu: Wochen- statt Monatsbudget. Das Geld bar im Portemonnaie. Denn Fassbares wie Noten und Münzen ist schwieriger auszugeben. Die Karte ist schnell mal durch das Lesegerät gezogen.
Früher warf ich nach Lust und Laune in den Einkaufswagen, achtete nicht gross darauf, wie hoch der Betrag schlussendlich war. Heute kaufe ich, auch dank Wochenmenüplan, bewusster ein. Ich achte auf Aktionen und behalte das Budget im Auge. Und wenn vom Budget noch ein Batzen übrig bleibt, ist es immer wie ein kleiner Sieg über mein Shopaholic-Ich.
Eine andere Strategie heisst Zeitspanne anstatt Zeitpunkt. So simpel das klingt, mein Hirn wäre nie auf eine solch einfache Lösung gekommen. Wenn ich mich privat verabrede, sage ich nicht: «Ich bin um 14 Uhr bei dir.» Sondern: «Ich komme zwischen 14.00 und 14.30 Uhr.» Erst hatte ich Bedenken, was man davon halten mag. Doch nie kam eine negative Rückmeldung zu diesem Vorgehen.
Bald wissen Familie und Umfeld, dass ich regelmässig in die Therapie gehe, aber vom Ritalin erzähle ich lange nichts. Ich will abwarten, ob sie eine Veränderung an mir bemerken. Tatsächlich höre ich bald: «Du scheinst gelassener, entspannter, ausgeglichener…». Und so fühle ich mich auch.
Ich bin kritikfähiger
Mit dem Wissen über ADHS, der richtigen Medikation sowie der therapeutischen Begleitung hat sich bei mir auch in meiner Einstellung einiges verändert. Auch die Streitkultur mit meinem Mann hat sich gebessert. Vieles nahm ich zu persönlich, fühlte mich sofort angegriffen. Simple Fragen wie «Hast du nichts gekocht?» brachten mich zur Explosion. Ich schaltete auf Abwehr, griff ihn an. Seine beschwichtigenden Worte, dass es doch nur eine Frage war, gingen damals komplett an mir vorbei. Solche Situationen kann ich heute besser einschätzen, überlege mir erst, wie was gemeint ist. Das liegt aber nicht am Medikament, denn dessen Wirkung ist meist schon vorbei, wenn mein Mann und ich abends aufeinandertreffen. Nein, das liegt an der erlernten Selbstreflexion und Kritikfähigkeit.
Mittlerweile kann ich gut einschätzen, ob ich für den bevorstehenden Tag Ritalin brauche oder nicht. Es ist wie mit einer Lesebrille: Wenn ich klare Sicht haben will, nehme ich die Tabletten. Wenn ich den Tag ohne Hilfsmittel meistern kann, lasse ich sie weg. Abschätzen kann ich das anhand des Tagesplans und der Stimmung von mir und meinen Kindern. Wenn ich ausmisten oder den Grossputz machen will, nehme ich unterstützend das Medikament, da es mich strukturierter und priorisierter arbeiten lässt.
Wenn meine Kinder und/oder ich morgens schon übellaunig aufstehen, dann greife ich nach Bauchgefühl auch zu meiner «Lesebrille». Dass Ritalin abhängig machen soll, empfinde ich als totalen Humbug. Ich spüre kein Verlangen oder gar Entzugserscheinungen, wenn ich einige Tage darauf verzichte. Im Gegensatz zu meinen Therapiesitzungen. Die habe ich während des Lockdowns im vergangenen Frühling echt vermisst. Die Stunde, in der es nur um mich und mein Gefühlsleben geht, ist wie Wellness für die Seele.
Natürlich gibt es trotz allem noch schlechte Tage. Tage, an denen ich weine und schreie. Aber ich weiss, dass es auch solche Tage geben darf. Egal ob man ADHS hat oder nicht. Gefühle zulassen, rauslassen. Es muss nicht jeder Tag gut sein.
Nach anstrengenden und lauten Tagen lege ich mich am Abend zu meinen Kids ins Bett und rede über den Tag. Erkläre, warum ich so oder so gehandelt habe, erkläre, wie ich mich gefühlt habe. Erstaunlich viel Verständnis kommt mir jeweils entgegen.
Die letzten Monate habe ich nicht nur einiges über die Erkrankung ADHS gelernt, sondern auch über mich, meine Beziehungen und meinen persönlichen Werdegang. ADHSler sind kreativ, empathisch und fürsorglich, aber auch desorganisiert, chaotisch und impulsiv. All das trifft absolut auf mich zu, ist Teil meiner Persönlichkeit und meines Könnens.
Ohne ADHS wären meine sprachakrobatischen Skills wahrscheinlich einen Bruchteil so hoch. Mein Hirn ist voll mit Antonymen, Synonymen, Fremdsprachen und Fremdwörtern, 1 Input ergibt 1000 Outputs. «Auf» Ritalin werde ich zur organisierten Planerin, die beispielsweise Menüpläne für die nächsten Wochen abliefert. Ich habe die einzigartige Möglichkeit, zwischen zwei Welten zu switchen. Ich bin Mary Poppins und Marie Kondo zugleich.
**Rahel Iten lebt mit ihrer Familie im
Kanton Zug und bloggt im Kollektiv «Mamas
Unplugged».*