Einschulung
Ab in die Schule
Nein. Ich will heute nicht in den Kindergarten!» Unsere Fünfeinhalbjährige stellt auf stur. Als Mutter eines Kindes, das eineinhalb Jahre lang jeden Morgen fröhlich zum Kindergarten hopste, verstehe ich die Welt nicht mehr. Alle Fragen nach dem Warum schmettert meine Tochter mit einem simplen «einfach! » ab. Als Eltern bleiben wir erst mal ebenso stur – «ohne Grund fehlen gibts nicht!» Im Gespräch mit der Kindergartenlehrerin kurze Zeit später erfahren wir, dass unsere Tochter in letzter Zeit frecher sei und sich weniger sagen lasse. Und dass sie in einem Schulreife-Test überdurchschnittlich gut abgeschnitten habe. Die Vermutung der Kindergärtnerin, unser Kind fühle sich womöglich unterfordert, war nachvollziehbar. So auch ihr Vorschlag, es früher als geplant – bereits auf Start des zweiten Semesters im Februar – in die erste Klasse zu schicken.
Welche Eltern würden sich da nicht gebauchpinselt fühlen? Aha, wussten wir es nicht schon immer? Unser Kind – hochintelligent! Schulthek, ABC und Einmaleins: Ab in die Schule, sofort! Doch auf den zweiten Blick wird der erste Stolz von Zweifeln abgelöst: Von Schreckensvisionen, wie die eigene Tochter auf dem Pausenplatz allein und zur Aussenseiterin gestempelt in einer Ecke steht, über die Sorge, dass sie den ganzen Stoff der ersten Klasse doch nicht in nur einem halben Jahr bewältigen kann bis zur Erkenntnis, dass sie sich dereinst noch früher mit der Berufswahl wird herumplagen müssen. Aber sie in ihrem Lerndrang bremsen, wollen wir auch nicht.
Leidensdruck
Objektive Hinweise dafür, dass eine sogenannte Akzeleration Sinn machen könnte, gibt es viele. Eindeutig sind die wenigsten. Ruth Enz, Leiterin des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Luzern, nennt zum einen unspezifische Symptome wie Verhaltensauffälligkeiten, Stören im Unterricht oder sich Verweigern als mögliche Zeichen von Unterforderung. Zum anderen beschreibt sie eine sehr grosse Wissbegierde, die bei der Lehrperson das Gefühl auslösen kann, dem Kind nicht mehr gerecht zu werden. «Ein wichtiger Indikator ist zudem, ob das Kind selbst Interesse daran zeigt, in die nächst höhere Klasse zu gehen», so Enz.
Für das Überspringen einer Klasse sei es jedoch elementar, dass das Kind nicht nur intellektuell, sondern auch in anderen Entwicklungsbereichen weiter sei als die Altersgenossen. Ansonsten hält sie es eher für angezeigt, es innerhalb seiner Klasse individuell zu fördern, zum Beispiel mit ergänzenden Aufgaben, Mitarbeit an Projekten oder Teilnahme an Fördergruppen.
Der Begriff «Einschulung» bezeichnet in der Mehrheit der Kantone den Eintritt in den Kindergarten. Der entsprechende Stichtag variiert je nach Kanton. Im Rahmen von HarmoS ist allerdings eine Vereinheitlichung im Gang. Die Kantone des HarmoS-Konkordates streben als Stichtag den 31. Juli an: Kinder, die vor dem 31. Juli eines Jahres vier Jahre alt werden, treten regulär nach den Sommerferien in den Kindergarten ein und zwei Jahre später in die erste Klasse. Tritt ein Kind, das nach dem aktuellen Stichtag Geburtstag hat, bereits früher in den Kindergarten ein, spricht man von frühzeitiger Einschulung. Erfolgt danach eine Beschleunigung, allenfalls auch ein vorzeitiger Start in der ersten Klasse, wird vom Überspringen einer Stufe gesprochen. Viele Kinder sind es allerdings nicht, die einen solchen Wechsel im Verlauf ihrer Primarschulzeit machen. In der Stadt Zürich beispielsweise waren es im Schuljahr 2011/12 nur rund 0,3 Prozent der Kinder. Auch in der Stadt Luzern schätzt man, dass es jeweils weniger als ein Prozent der Kinder betrifft. Das Vorgehen, um eine Klasse zu überspringen, ist je nach Kanton verschieden. Bei Uneinigkeit zwischen Eltern und Lehrperson ist meist der schulpsychologische Dienst beizuziehen.
Auch die Zürcher Schulpsychologin Zorana Grošin warnt vor einer Überinterpretation von Vorsprüngen in einzelnen Entwicklungsbereichen. Neben den intellektuellen Fähigkeiten seien auch Sozialkompetenz, emotionale Reife, Sprache, Leistungsmotivation, Selbstständigkeit und motorische Fähigkeiten wichtig. «Wenn bei einem Kind ein gewisser Leidensdruck beobachtbar ist, der von einer Unterforderung in mehreren dieser Bereiche kommt, kann eine Beschleunigung eine geeignete Lösung sein», sagt Grošin. In solch einem Fall seien auch keine negativen Auswirkungen beim weiteren Schulerfolg zu erwarten. «Ein Kind mit Vorsprüngen in mehreren Bereichen wird sich in der nächst höheren Klasse nach einer Eingewöhnungsphase wohler fühlen als vorher, da die Angebote besser zu ihm passen.» Wichtig beim Überspringen sei allerdings, dass das Kind von seiner Familie in diesem Schritt unterstützt werde. Um richtig entscheiden zu können, ist eine sorgfältige Analyse nötig. Grošin macht oft die Erfahrung, dass man erst im Nachhinein feststellt, dass die Situation zu ungenau angeschaut wurde. «Wir haben schon erlebt, dass die Schullaufbahn gravierend negativ beeinflusst wurde», so Grošin. Sei ein Kind mit dem Wechsel in eine höhere Stufe überfordert, können seine Leistungen bereits kurz nach dem Wechsel abfallen, allenfalls gleichzeitig mit einem sozialen Abseitsstehen wegen des Altersunterschiedes zum Rest der Klasse. Das führt mitunter soweit, dass eine Querversetzung in ein anderes Schulhaus erwogen werden muss oder der Übertritt ins Gymnasium betroffen ist. «Oft wird für solche Kinder in der 6. Klasse oder der Oberstufe eine Repetition gewünscht», sagt Grošin. Dies, weil das Kind leistungs- und entwicklungsmässig nicht für die Oberstufe oder den Eintritt in eine Lehre bereit sei.
Konsequenzen bedenken
Auch Ruth Enz kann von guten und weniger erfreulichen Beispielen berichten. «Es gibt Kinder, bei denen läuft es tipptopp», so Enz. Bei anderen konnte sie schon beobachten, dass es bis in die vierte, fünfte Klasse gut ging und sich dann – wenn die Vorpubertät einsetzt, spätestens ab der Oberstufe – die Entwicklungsschere öffnet.
«Da entwickeln die Klassenkameraden plötzlich andere Interessen. Die Freizeitbeschäftigungen ändern sich. Das Interesse am anderen Geschlecht erwacht. Und so weiter. » Wer jünger und noch nicht in allen Bereichen gleich weit entwickelt ist, kann da schon mal das Gefühl bekommen, nicht dazu zu gehören. Mit allen möglichen Konsequenzen.
Ein Kind leichtfertig in eine höhere Klasse wechseln zu lassen, empfehlen also weder Grošin noch Enz. Als die Kindergartenlehrerin für unsere Tochter eine schulpsychologische Abklärung vorschlug, nahmen wir dieses Angebot deshalb gerne an. Eine glasklare Antwort erhielten wir nicht. Doch wurde unser Verdacht bestätigt, dass sie zwar intellektuell recht weit, abgesehen davon aber altersgemäss entwickelt ist. So wird unsere Tochter im Sommer ganz regulär in die erste Klasse gehen. Bis dahin fordert sie die Kindergartenlehrerin mit zusätzlichen Aufgaben. In der Zwischenzeit gefällt es ihr allerdings sowieso wieder besser im Kindergarten: «Wir haben ein neues Thema, die Geschichte von der Zauberin Zilly.» Manchmal braucht es weniger, als man meint.