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Lauter kleine Wichser
zvg
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Gerade ist er noch so schön geflogen: Der ferngesteuerte, kleine Hubschrauber meines Ältesten ist eben noch majestätisch durch unseren Flur geschwebt. Jetzt liegt er, alle Propeller von sich gestreckt, auf der Seite und wird wüst beschimpft. Als «verdammter Wichser». Ich zucke zusammen, räuspere mich und lege mir einen erzieherischen Monolog zurecht, der sich von antiken Fluchtafeln über mittelalterliche Beschimpfungen wie «Lasterbalg», «Schwannendrücker» und «Schnapphahn» bis zum unerträglichen Diskopumper Battlerap der Gegenwart («Ich komme mit der Pumpgun in den Club» etc.) erstrecken soll. Ich habe eine Vorliebe für abseitiges, unnützes Wissen, das einem nirgendwo weiterhilft und gerade deshalb die Hirnwindungen verstopft. Aber da kommt mein Söhnchen schon angetrabt und erzählt mir, dass «Wichser» die neue coole Beschimpfung in seiner Schule ist, er aber nicht weiss, was das eigentlich bedeuten soll. Und ob ich es ihm nicht erklären könnte.
Kann ich?
Erst einmal muss ich mit der Situation klar kommen. Ganz offensichtlich sind die Zeiten, wo meine beiden Grossen ihre Schimpfwörter hauptsächlich von ihrer Mutter und mir beziehen, endgültig vorbei. Vor Jahren hatte ich mein verbales Waffenarsenal noch mit Tarnkappen versehen und damit begonnen, unverantwortliche Autofahrer «verflixte Zauberer» zu nennen, sowie gewisse Politiker als «verfilzte Honigbären» zu bezeichnen. Das ging eine ganze Weile gut. Aber inzwischen nicht mehr. In den Mündern meiner Kinder ist Rausgehen inzwischen auch schon mal «fuck» wegen «beschissenem» Wetter.
Jungs sind «Wichser» oder «schwul». Mädchen sind «Tussis» oder «Schlampen». Ich bilde mir ein, dass es in ihren Herzen nicht so ist. Der «Wichser» ist nur die Eintrittskarte, die man bereithalten soll. Die «Schlampe» lediglich der Affentanz, den man aufführen muss, damit alle anderen anerkennend nicken.
Mich nervt das. So sind meine Kinder gar nicht. Aber wahrscheinlich denken das alle Eltern von ihren Kindern. Und wer hat dann damit angefangen? Ich weiss es nicht und bin ziemlich angefressen. Also rede ich über Beschimpfungen. Darüber welche für uns Sinn machen und welche nicht. Die Liste wird auf beiden Seiten ziemlich schnell sehr lang. Am Ende lachen wir sogar ein bisschen. Bis mein Sohn verwirrt von der Liste aufblickt:
«Halt mal! Und was heisst jetzt Wichser?»
Ich sehe mich um, als stünde da irgendwer, der es für mich erklärt. Keiner da.
«Also Folgendes: …»
Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.