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Zukunftsangst? Könnt ihr vergessen!
zvg
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Ich liebe es, mit meinem Neunjährigen die Nachrichten zu gucken. Er spricht synchron die Ansage mit, versucht aus der Kameradistanz im Studiohalbdunkel zu erkennen, wer sprechen wird (meistens hat er Recht) und kommentiert mittendrin. Als er gestern zum Beispiel hören musste, dass «irgend so ein alter AfD Typ» (seine Worte, nicht meine) einen seiner Lieblingsfussballspieler beleidigt hat, schüttelte er verständnislos den Kopf und brummelte laut vor sich hin:
Gute Frage. Wovor eigentlich? Die Antwort auf diese Frage umreisst gegenwärtig sehr deutlich der Historiker Jörg Baberowski, wenn er bei jeder Gelegenheit verkündet:
«Das Deutschland, wie wir es kennen, wird verschwinden!»
Tamtamtaaaaam! Oh nein, wie furchtbar. Kaum passen wir einmal nicht auf, ist Deutschland weg. Und wer muss es wieder gewesen sein? Natürlich: Die Geflüchteten.
Das ist, wenn ich das an dieser Stelle einmal so salopp formulieren darf, der überflüssigste Unfug, den ich seit einer Weile gehört habe. Nicht, dass der Mann nicht Recht hat. Deutschland wird sich radikal verändern. Unter anderem auch aufgrund der vielen Geflüchteten. Damit allerdings Stimmung zu machen, ist nicht nur wohlfeil sondern zutiefst unhistorisch. Welches Deutschland wird denn verschwinden? Ostdeutschland? Das Deutschland mit einer Wehrpflicht und der Begeisterung für Atomstrom? Dasjenige vor dem VW Skandal oder das danach? Die Bonner Republik? Das 5-Parteien-System? Lederschlips-Vokuhila Deutschland?
Wir leben tatsächlich in Zeiten grosser Veränderungen. Ökonomische, ökologische und soziale Faktoren ändern sich scheinbar über Nacht. Nur haben sie das schon immer gemacht. Und selbst in den Perioden, die wir rückblickend als Periode des friedlichen Stillstands beschreiben, ist es so gewesen. Da hat es uns nur persönlich nicht betroffen. So wie die Rente mit 73. Aber jetzt geht Deutschland mal den Bach runter. So richtig. Am Bach sitzen sogar Hunde, vor die es auch gehen wird. Wenn damit nicht so erfolgreich Stimmung gegen Menschen gemacht würde, wäre es albern genug, um darüber zu lachen.
Meine Kinder werden ein anderes Deutschland als jetzt erleben, wenn sie erwachsen sind – und zwar unabhängig von den Geflüchteten. Anstatt sie deswegen zu ängstigen, sollten wir ihnen diese Tatsache als Chance und als Lauf der Welt begreiflich machen. Damit sie Zukunft gestalten, anstatt sich von ihr verrückt machen zu lassen.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.