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Sackgasse Schulbildung
Ich habe eine sehr privilegierte Schulbildung genossen und die meiste Zeit weiss ich es zu schätzen. Gut, dass erst die Klassenstufe unter mir frei zwischen Französisch und Altgriechisch wählen durfte und ich zwar in Paris nicht nach dem Weg fragen aber dafür noch die ersten Zeilen von Homers Odyssee deklamieren kann, nervt mich. Aber im Allgemeinen bin ich dankbar für das, was man mir an Wissen vermittelt hat. Je mehr meine grosse Tochter allerdings in diese Spezialwissensvermittlungsfalle gerät, umso mehr hadere ich mit Lehrplänen und Schulstoff. Was soll das Ganze? Wofür lotst man sie jahrelang durch ein Absurditätenkabinett voller zweckbefreitem, kontextlosem Wissen, dass sie sich eilig draufzuschaufeln hat, um es anschliessend mindestens genauso schnell zu vergessen? Worin liegt der Sinn darin, Heranwachsende mit Schiller, dem Berechnen von krummlinig begrenzten Flächen und Bundesjugendspielen zu peinigen, wenn sie deswegen später freiwillig kein Buch in die Hand nehmen, den Dreisatz nicht draufhaben und sich vor lauter aufgezwungenem Unsportlichkeitsgefühl nie mit Freude in Bewegung setzen?
Dass Lehrpläne darauf angelegt sind, allen Personen verschiedene Abstufungen von abprüfbarem Allgemeinwissen zu vermitteln, ist die eine Sache. Aber was verbindliche Bestandteile dieser Allgemeinbildung sind, darüber sollten wir uns noch mal unterhalten. Wieso ist es wichtiger, den Unterschied zwischen einem Anapäst und einer Stammfunktion zu kennen (Na? Naaaaaaa?!) als zu wissen, nach welchen Kriterien man erfolgreich Bewerbungen verfasst? Wie man debattiert, ohne sich ständig um die eigenen Befindlichkeiten zu kreisen? Seine virtuelle Identität schützt, die Krankenkasse wechselt, monatliche Fixkosten abschätzt? Sich Hilfe sucht? Mit Mobbing umgeht? Altersvorsorge betreibt? Schulden macht und wieder begleicht?
Der Vergleich ist sicher nicht ganz fair. Aber Schule ist eben viel zu häufig nicht nur praxisfern, sondern füllt diese Praxisferne auch noch mit Stoff, der vielen lediglich das Gruseln lehrt und Wissen als Sackgasse präsentiert. Wissen muss nicht immer vertieft werden. Selbst in sehr tiefen Sackgassen kommt man irgendwann nicht weiter. Wissen muss vor allem vernetzt werden. Und der Tatsache, dass für den einen eine Sackgasse darstellt, was für die andere eine Kreuzung mit vielen Möglichkeiten ist, sollte mehr Rechnung getragen werden. Sonst bleibt Schule einfach nur der Ort, an dem man versucht hat, uns «irgendwas» beizubringen, während wir darauf gewartet haben, erwachsen zu werden.
Schule sollte mehr sein als das.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.