Monatsgespräch / Christina Mundlos
Gewalt unter der Geburt - ein Tabu
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Gewalt unter der Geburt ist ein Tabuthema, betreffe aber fast die Hälfte aller Gebärenden, behauptet die Soziologin Christina Mundlos. Im Gespräch erklärt sie, wieso es überhaupt dazu kommt.
wir eltern: Eine Geburt ist von Natur aus ein heftiges und schmerzvolles Ereignis. Doch damit nicht genug: In Ihrem neuen Buch geht es darum, dass Frauen im Gebärzimmer Gewalt angetan wird. Wie das?
Christina Mundlos: Es handelt sich um verschiedene Formen von physischer und psychischer Gewalt. Da sind zum einen all die Interventionen, die nicht nötig wären, wie häufige oder grobe vaginale Untersuchungen, fragwürdige medikamentöse Geburtseinleitungen, Damm- oder Kaiserschnitte, aber auch Fälle von verweigerter Schmerzbekämpfung. Bei der psychischen Gewalt ist das Spektrum ebenfalls sehr weit und reicht vom Ignorieren der Bedürfnisse der Gebärenden bis hin zu Beleidigungen, Verleumdungen, Bedrohungen, Entwertungen und Angstmachen.
Ist Gewalt unter der Geburt eine neuere Entwicklung? Wieso hören wir erst jetzt davon?
Die Gebärkultur ist seit Jahren im Wandel und wird immer medizinisch-technischer, so dass normale, interventionsfreie Geburten kaum noch stattfinden. Nur 6 von 100 Frauen gebären heute ohne jeglichen medizinischen Eingriff. Der Mehrwert der Interventionen bleibt jedoch höchst fraglich.
Woran liegt das?
Vor allem an der Finanzpolitik. Geburtshilfliche Abteilungen lohnen sich heute kaum noch. Bei interventionsfreien Geburten machen die Kliniken sogar ein Verlustgeschäft. Damit eine Gebärabteilung schwarze Zahlen schreibt, muss sie bei sehr vielen Geburten Eingriffe durchführen. Zudem sparen die Kliniken seit vielen Jahren immer mehr Personal ein und versuchen, die Geburten künstlich zu beschleunigen, um eine bestmögliche Auslastung von Personal und Räumlichkeiten zu erreichen. Dadurch bleibt für viele Aufgaben der Hebammen keine Zeit mehr, etwa für die sensible Aufklärung über Eingriffe oder das Einholen von Bewilligungen dafür.
Was müsste sich ändern?
Heute werden gezielt finanzielle Anreize gesetzt, um zu operieren, zu schneiden und zu nähen. Das darf nicht sein. Die Gelder, die die Krankenkassen für eine Geburt bezahlen, müssen sich wieder an den realen Kosten orientieren, sodass die Kliniken auch ohne unnötige Eingriffe und mit ausreichend Personal schwarze Zahlen schreiben. Es ist die Aufgabe der Gesundheitspolitik, das Abrechnungssystem zu ändern.
Wie häufig kommt es zu solcher Gewalt unter der Geburt?
Es gibt noch keine Befragungen oder Untersuchungen darüber. Allerdings gibt die WHO Empfehlungen darüber ab, wie oft welcher Eingriff nötig wäre. Die Dammschnittrate beispielsweise sollte unter fünf Prozent liegen, ist jedoch um ein Vielfaches höher, obwohl Studien zeigen, dass ein Schnitt zu keinem medizinischen Vorteil für Mutter und Kind führt, im Gegenteil. Vergleicht man die aktuellen Zahlen mit den WHO-Empfehlungen, kommt man zum Schluss, dass 40 bis 50 Prozent der Interventionen unnötig oder von den Frauen nicht genehmigt sind und dadurch den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen. Psychische Gewalt ist ebenfalls weit verbreitet, da sie fast immer auch bei den Geburten auftritt, wo körperliche Gewalt vorkommt.
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Christina Mundlos
ist Soziologin und Bauchautorin, unter anderem von «Gewalt unter der Geburt» und «Wenn Muttersein nicht glücklich macht». Sie ist Mutter von zwei Kindern im Alter von vier und acht Jahren und lebt in Hannover.
Die moderne Geburtshilfe hat aber auch wesentliche Fortschritte gebracht. Die Mütter und Säuglingssterblichkeit unter der Geburt ist heute so tief wie nie.
Das stimmt natürlich. Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen Interventionen, wenn sie denn massvoll wären. In den vergangenen 20 Jahren haben sich aber die Geburtseinleitungen mehr als verdoppelt, Kaiserschnitte ebenso. Interessant: Genau in diesen 20 Jahren hat sich bei der Säuglings- und Müttersterblichkeit oder bei den Vitalwerten der Neugeborenen, die unmittelbar nach der Geburt gemessen werden, nichts* verbessert. Das bedeutet, dass ein Grossteil der Eingriffe nicht nötig wäre.
Es geht doch nicht nur um Leben und Tod. Lange Geburten können für die Mutter sehr traumatisch sein. Sollten wir nicht froh sein, dass wir heute weniger lang leiden müssen?
Ich bin weder gegen die PDA zur Schmerzbekämpfung noch gegen den Kaiserschnitt. Wenn eine Frau merkt, dass sie mit ihren Kräften am Ende ist oder ein Schmerzmittel haben möchte, soll sie dies bekommen. Ich hatte selber zweimal eine PDA und bin heilfroh, dass es diese gegeben hat. Es darf jedoch nicht sein, dass Eingriffe durchgeführt werden, damit die Klinik Personal oder Geld spart. Dass dies passiert, zeigt auch die Tatsache, dass heute in Deutschland die meisten Kinder am Freitag geboren werden.
Weshalb?
Von Montag bis Donnerstag ist die Anzahl der Geburten ungefähr gleich hoch. Geburten, die jedoch am Freitag beginnen, versuchen die Kliniken auch am Freitag zu beenden, weil am Wochenende mit weniger Personal geplant wird und dieses teurer ist. Sonntagskinder gibt es demgegenüber immer weniger.
Sie sagen, Gewalt unter der Geburt sei eines der letzten Tabus in der westlichen Gesellschaft. Wieso wird nicht darüber geredet?
Das ist eine interessante Frage. Zum einen liegt es daran, dass den Frauen, die davon sprechen, sehr rigide begegnet wird. Sie bekommen zu hören: «Mensch, es ist doch vorbei, dein Kind ist gesund. Schliess damit ab.» Die Frau als solche steht überhaupt nicht im Fokus. Was ihr angetan wurde, dass sie traumatisiert ist, interessiert niemanden, weil sie lediglich als die Hülle für das neue Leben angesehen wird. Das wiederum hängt mit einem frauenverachtenden Bild zusammen, das wir in unseren Köpfen haben, dass die Frau unter Geburt alles ertragen soll, im Zweifelsfall lieber eine Intervention zu viel als eine zu wenig. Die Frauen verdrängen deshalb den Vorfall, versuchen oftmals sogar, ihn umzudeuten, indem sie sich sagen, «das war bestimmt nötig».
Genau das ist aber während der Geburt, die eine Extremsituation ist, enorm schwierig zu beurteilen.
So ist es, besonders auch, weil wir in einer Gesellschaft leben, die sehr expertenhörig ist. Begegnen wir jemandem in einem weissen Kittel, gehen wir davon aus, dass die Person medizinisch sinnvolle Entscheidungen trifft und nur zu unserem Besten handelt. Doch bereits in der Schwangerschaftsvorsorge und ebenso bei der Geburt steht die Frau nicht mehr im Zentrum, da geht es hauptsächlich um Laborwerte und die Daten der verschiedenen technischen Gerätschaften. Da heisst es dann nicht selten: «Das sind keine Wehen, das Gerät schreibt nichts auf.» Auch wenn es die Frau völlig anders empfindet.
Was tun?
In dem Moment, in dem man durch die Kliniktür geht, erhöht man die Wahrscheinlichkeit, dass einem Gewalt angetan wird, enorm. Deshalb ist die Vorbereitung ganz wichtig. Man sollte sich mit den verschiedenen Eingriffen, die auf einen zukommen können, auseinandersetzen, deren Vor- und Nachteile kennen. Hilfreich ist es zudem, neben dem Partner eine neutrale dritte Person bei der Geburt dabei zu haben, die als eine ruhige und sachliche Vermittlerin zwischen Klinikpersonal und der Gebärenden auftritt. Dies kann eine Doula sein oder eine erfahrene Frau, die sich mit Geburtsabläufen auskennt.
Kommt Gewalt auch im Geburtshaus oder bei Hausgeburten vor?
Ja, aber eher selten. Und es geht dann weniger um unnötige Eingriffe, sondern mehr um psychische Gewalt wie nicht ernst nehmen, beleidigen, genervt oder überfordert reagieren.
Gewalt ist ein sehr starkes Wort. Darf man es im Kontext der Geburt überhaupt verwenden?
Der Begriff soll die Gesellschaft und besonders auch das Klinikpersonal dafür sensibilisieren, dass es sich um Gewalt handelt – wenn einer Frau beispielsweise ein Körperteil aufgeschnitten wird, ohne dass es notwendig wäre. Ich weiss, dass der Ausdruck schockiert und provoziert. Würde man aber stattdessen von demütigender Behandlungspraxis oder Missbrauch der Machtposition sprechen, würde man den Frauen, denen Gewalt unter der Geburt widerfahren ist, in den Rücken fallen.
Wie sind Sie auf dieses Thema aufmerksam geworden?
Mir wurde vor neun Jahren selbst Gewalt unter der Geburt angetan. Man hat mir gegen meinen mehrfach geäusserten Willen ohne medizinische Not einen Dammschnitt verpasst, es wurden mir Schmerzmittel verweigert und die Hebamme hat mich ausgelacht, als es mir nicht gut ging. Damals gab es aber kaum Literatur zum Thema. Erst vor ein paar Jahren, als die Organisation Human Rights in Childbirth gegründet wurde, begannen Frauen darüber zu reden, zunehmend auch in sozialen Netzwerken. Es ist ganz wichtig, dass wir darüber sprechen, damit auch Fachleute für das Thema sensibilisiert werden, sodass in Zukunft jede Frau ihre Würde behält, auch unter der Geburt.