Eine Autobahnraststätte in Zürich, April 1996: Sie steigen aus dem Lastwagen.
Familie Al Beati gab uns im Rahmen des Artikels Hallo, Schweiz! Auskunft über Ihren Neuanfang in der Schweiz.
Der irakische Atomphysiker Salahaddin Al Beati, seine Frau Iman Al Sharifi, Sekretärin, und die beiden Söhne Ahmed, 6, und Rami, 3. Sieben Tage lang waren sie unterwegs, versteckt im Anhänger des Lasters, hinter Kisten. London ist das Ziel, so ist es mit den Schleppern vereinbart. Dort hat die Familie Freunde, Bekannte. Doch die Schlepper sagen: «Hier müsst ihr raus.» Endstation Schweiz.
Aarau, Februar 2016: Salahaddin Al Beati, 54, und Iman Al Sharifi, 52, sitzen im Büro der von Al Beati gegründeten Lehr- und Familienberatungsstelle Ischtar. Das Büro befindet sich im Gemeinschaftszentrum Telli. Sie arbeiten beide als Kulturvermittler und interkulturelle Übersetzer, unter anderem auch im Auftrag des Kantons Aargau.
Es ist ein trüber Wintertag. Menschen mit Regenschirmen gehen vor den grossen Fenstern des Büros vorbei. Auf dem Tisch stehen dampfende Teetassen. Das Ehepaar erinnert sich an seine ersten Eindrücke von der Schweiz. «Es war unfassbar. Ein Schock», sagt Al Beati. «Alles war so sauber. Überall war Ordnung, auf den Strassen, um die Häuser, die Gesichter der Menschen waren sauber, die Leute sprachen leise. Es war wie eine künstliche Welt.» Sie fühlten sich fremd, hatten absolut keine Möglichkeit zur Kommunikation. Und sie wussten nicht wie umgehen mit diesen Schweizern, die so anders waren. «Im Irak gibt es die höfliche Begrüssung auf der Strasse oder im Einkaufsladen nicht. Wir vertrauen einander nicht. Warum sollte man einen Fremden grüssen? In die Augen schauen? Angst ist Teil des Lebens», so Al Beati. Augenkontakt ist unhöflich. Man meidet ihn.
<<Die Schweiz war für uns wie eine künstliche Welt.>>
Doch hier beginnt jede Begegnung mit Augenkontakt. «Das war unglaublich und unmöglich für uns, und sehr schwierig, das zu verstehen», sagt Iman Al Sharifi. Die Familie isolierte sich, war auf sich selbst zurückgeworfen. «Alles, was wir noch hatten, war unsere Kultur. Die wollten wir uns unbedingt erhalten», sagt Iman Al Sharifi. Familienkultur im Irak heisst: Der Vater ist der Boss, die Mutter muss respektiert werden. Punkt. Kinder reden nicht mit. «Erziehung gibt es nicht. Gewalt ist die einzige Methode. Irakische Kinder machen alles, um nicht geschlagen zu werden. Darum sind sie auch brav und gehorsam», sagt Al Beati. Beziehungskultur unter Ehepaaren heisst: Der Mann entscheidet. «Irakische Männer sind der Meinung, dass sie besser denken können als Frauen», sagt er, schaut seine Frau an, sie lächeln: «Ich habe sie erst hier kennengelernt.» Denn hier fehlte der grosse Familienverband, in dem sie im Irak gelebt hatten. In der Fremde kam sich das Paar auf eine ganz neue Weise nahe. Sie fingen an, sich zu beraten, über Dinge zu diskutieren. Gemeinsam Entscheidungen zu treffen.
<<Alles, was wir noch hatten, war unsere Kultur.>>
Im Irak undenkbar
Sie waren sich zwar näher gekommen, aber dem Schweizer Alltag immer noch weit entfernt. Bis die Kinder in die Schule kamen. Iman Al Sharifi sagt, dass das alles verändert habe. «Es war wunderbar. Diese Schule, das war wie eine kleine Welt. Die Kinder hatten ihre eigenen Pulte, Schubladen mit eigenem Material drin, es hingen bunte Zeichnungen an den Wänden.» Hände waschen, Pantoffeln anziehen, die Jacken aufhängen, Lieder singen, Buchstaben lernen und die Schuhe selber binden: «Ich habe gedacht, ich sehe nicht richtig», sagt Salahaddin Al Beati. «Und die Kinder waren zufrieden, lachten, schwatzten. Sogar im Schulzimmer. Undenkbar im Irak.»
Die Kinder wurden frei und zur Selbstständigkeit erzogen, ihre Meinung war gefragt, Schläge gab es nicht. «In der Schweiz lernten wir Ausdrücke kennen wie Menschenrechte, Kinderschutz, Gleichberechtigung, Respekt und Ordnung. Dinge, die es im Irak nicht gibt.» Was sie sahen, gefiel ihnen, machte Eindruck. Sie wussten, so wollten sie auch leben.
Fremd geblieben
Das Ehepaar wurde aktiv, informierte sich in der Schule über Erziehungsberatungsstellen. Sie gingen hin und lernten. Das Paar machte gemeinsam Deutschkurse, eine Dolmetscherausbildung, hatte am selben Tag Prüfungen und beide bestanden sie. Das Leben mit den Kindern war so ganz anders geworden, offen, liebevoll, und Al Beati sagt, er habe oft über ihre Aussagen und Meinungen gestaunt. «Es hat zwar manchmal schon geschmerzt, wenn sie so mehr Schweizer wurden als Iraker», sagt er. Doch heute seien sie alle mehr Schweizer.
«Wir leben gerne hier, wir haben gute Menschen kennengelernt, haben Freunde gefunden. Aber für die Bevölkerung sind wir die Fremden. Und für unsere Familie im Irak sind wir auch fremd. Sie sagen, sie verstehen uns nicht mehr.»
Seit bald 15 Jahren wohnt die Familie in Buchs (AG). Sohn Ahmed, 27, ist stellvertretender Marktleiter, Rami, 24, Wirtschaftsstudent. Im Oktober 2008 wurde der Familie diskussionslos das Gemeindebürgerrecht zugesichert. Mit 19 zu 13 Stimmen. Und seit diesem Jahr ist Salahaddin Al Beati Mitglied des Einwohnerrates Buchs.