Erziehung / Redensart
Vom Fünfer und dem Weggli
Es wäre übertrieben, zu sagen, dass mich in meiner Kindheit nichts mehr ärgerte als die altklugen, pseudoweisen Redensarten, die meine Eltern hervorkramten, wenn ich eine Lektion zu lernen hatte. Aber es nervte. Jedes Mal. «Gut Ding will Weile haben», «Geduld bringt Rosen», «Was Hänschen nicht lernt», bla, bla, bla. Heute habe ich selber Kinder, ein leibliches (1) und einen Stiefsohn (11) und merke, wie wahr die guten alten Sprüche doch eigentlich sind. Vielleicht muss man den einen oder anderen neu interpretieren, der heutigen Zeit anpassen, aber es bleiben erstaunlich aktuelle Lektionen fürs Leben. Auch wenn sie wehtun.
Gabriela Gründler
«Kann ich rausgehen und danach noch gamen?» – «Nein, du kannst entweder rausgehen oder gamen.» – «Ich will aber beides.» – «Fünfer UND Weggli gibts nicht, du musst dich entscheiden.» Es gibt wohl keinen Haushalt, in dem ein ähnlicher Dialog noch nie geführt wurde. Verständlich, auch wir Erwachsenen hätten gerne stets das volle Programm. Meistens reicht aber das Geld dafür nicht (sonst hätten wir ja alle einen roten UND einen schwarzen Porsche in der Garage). Ist es nicht sinnvoll, bereits den Kindern nahezulegen, dass sie nicht alles haben können, sondern sich entscheiden müssen? Das hilft ihnen später, Prioritäten zu setzen. Ich behaupte: Kinder, die immer alles bekommen haben, können später schlechter formulieren, was sie eigentlich wollen.
Lerneffekt: Priorität, Entscheidung
Mir wurde Sparsamkeit in die Wiege gelegt. Auch wenn das ein gewisses neurotisches Verhalten gefördert hat, ist es mir doch lieber, mit wenig leben zu können, statt auf nichts verzichten zu können. Darum reagiere ich allergisch, wenn Kinder den Wert des Kleinen nicht sehen.
Mir sind schon Bettler begegnet, die 50 Cent nicht annehmen wollten, weil es ihnen als zu wenig erschien. Zu wenig wofür? Für nichts? Der Euro ist aus Cents, der Franken aus Rappen gemacht, wer den Wert der kleineren Masseinheit nicht zu schätzen weiss, ist äusserst irrational.
Anderes Beispiel: Im Hause Hunziker haben wir das Joghurt-Deckeli zuerst abgeleckt und dann das Joghurt gegessen. Auf dem Deckel ist exakt dasselbe Joghurt drauf wie im Becher drin. Warum soll man das nicht essen? Ich häufe ja auch nicht einfach den ersten Löffel auf und schmeisse ihn dann weg. Das hat doch mit Bescheidenheit zu tun, vielleicht sogar mit Demut: Schätze, was du hast und nicht das, was du bekommen könntest. Und verlange nicht zu viel, sonst bekommst du womöglich gar nichts.
Lerneffekt: Wertschätzung, Bescheidenheit, Sparsamkeit
Gabriela Gründler
Fast nichts regt mich mehr auf als Inkonsequenz. Leider sind Kinder die personifizierte Inkonsequenz. Umso mehr will ich ihnen Konsequenz beibringen. Zum Beispiel, wenn mein Stiefsohn Ben glaubt, den Inhalt der Legokiste in der ganzen Stube verteilen zu können, aber nichts davon wieder wegräumen zu brauchen. Oder wenn er zwar mit den Hamster spielen (A), ihren Käfig aber nicht ausmisten (B) will. Dann sage ich: «Wer A sagt, muss auch B sagen». Denn Opportunisten haben wir in der Welt schon genug. Wir brauchen Menschen, die sich an Abmachungen halten, die etwas durchziehen, auch wenn ihnen nicht alles daran gefällt.
Lerneffekt: Konsequenz, Durchhaltewille
Gabriela Gründler
Das klingt drastisch und wird ja auch als Mahnung für körperliche Züchtigung angesehen. Aber in den Grundzügen ist der Satz absolut richtig. Denn: Wer mit Worten nicht von etwas zu überzeugen ist, dem muss es auf andere Weise gezeigt werden; so, dass er es spürt. Das heisst nicht, dass man handgreiflich werden muss, sondern dass ein Präzedenzfall nötig ist.
«Spring nicht vom Etagenbett, du tust dir noch weh», das sind Worte. Springt das Kind trotzdem und tut sich weh, hat es seine Lektion ziemlich sicher gelernt, zwar auf die harte Tour, aber die weiche hat ja nicht funktioniert. Manchmal braucht eine Erkenntnis eben einen gewissen Leidensdruck. Notfalls müssen diesen die Eltern generieren – und dem noch nicht so ausgeprägten Verstand ihrer Kinder auf die Sprünge helfen.
Lerneffekt: Gehorsam, Lernfähigkeit
Wenn ich mich recht erinnere, war einer meiner meistgesagten Sätze in der Kindheit: «Ich kann nichts dafür». Die Freiheit, für fast nichts verantwortlich zu sein, macht ja auch einen Grossteil der Unbeschwertheit in der Kindheit aus. Aber es ist eben leicht, den anderen die Schuld zu geben. Auch Mitläufer machen sich strafbar. Das kann man, finde ich, nicht früh genug lernen. Im Fokus stehen dann aber nicht das Missverhalten und die Strafe, sondern die Ermutigung, das nächste Mal für die eigenen Moralvorstellungen einzustehen und sie überzeugt zu vertreten. Auch wenn das bedeutet, seine Freunde oder Vorbilder zu «verraten».
Lerneffekt: Verantwortung, Überzeugung
Gabriela Gründler
Meine Erfahrung hat gezeigt, dass du von einem Kind, dem du soeben gegeben hast, was es wollte, nicht mehr viel verlangen kannst. Was völlig nachvollziehbar ist, es hat keine Motivation mehr. Kinder erkennen erst den unmittelbaren Nutzen einer Tätigkeit: Ich muss die Packung öffnen, damit ich die Kekse darin essen kann. Längerfristigen Sinn sehen sie nicht. Darum verknüpfen wir, die wir es besser wissen, Tätigkeiten miteinander, die von alleine nicht korrelieren: wie Hausaufgaben und Fernsehen. Indem wir den Spass (Fernsehen) als Belohnung für die Pflicht (Hausaufgaben) etablieren, schaffen wir einen Anreiz, die Pflicht überhaupt anzugehen. Eltern, die ihren Kindern zuerst das Vergnügen bieten und dann die Arbeit einfordern, machen wohl nichts falsch, aber sie machen es sich unnötig schwer.
Lerneffekt: Geduld, Motivation, Ausdauer
Manchmal ärgert sich mein Stiefsohn, weil er in einer Prüfung schlecht abgeschnitten hat. Noch viel öfter nervt er sich jedoch, dass er Hausaufgaben machen oder Wörtli üben muss. Ja, Herrgott! Was glaubt ihr Kinder denn!? Dass man über Nacht zum Fussballstar wird? Oder auf Knopfdruck Millionär? Vergesst diese Castingshow-Mentalität, wer sich nicht bemüht, wird auch nicht besser. Uns fällt nichts einfach so in den Schoss, heute wahrscheinlich noch weniger als früher. Die Realität ist ein hartes Stück Brot, von dem auch ihr essen müsst. Also reisst euch zusammen und setzt euch in Bewegung. Ähnliche Sprüche: «Ohne Fleiss kein Preis», «Übung macht den Meister», «Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen»
Lerneffekt: Initiative, Einsatz, Engagement
Gabriela Gründler
Können Redensarten, in denen das Leben bestraft, schlecht sein? Ich glaube kaum. Es trifft ja auch völlig zu. Meistens regen wir uns selbst am meisten darüber auf, etwas verpasst zu haben, weil wir nicht rechtzeitig waren. Insofern geben wir mit diesem Satz den Kindern zu verstehen: Nutze deine Chance, pack die Gelegenheit beim Schopf. Zögern heisst manchmal verlieren. Unpünktlich sein auch. Wir sollten aber den Spruch gezielt einsetzen. Bestrafen wir das Kind für seine Unpünktlichkeit, ist er fehl am Platz. Richtig ist er, wenn das Kind zum Beispiel die Einsendefrist eines Ferienkurses verpasst hat. Auf dass das Leben bestraft – und nicht wir.
Lerneffekt: Pünktlichkeit, Aufmerksamkeit
Gabriela Gründler
«Wo ist die Schere?» – «Da, wo sie immer ist.», «Wo ist mein Rucksack?» – «Vor deiner Nase.», «Wo ist mein ferngesteuertes Auto?» – «Weiss ich doch nicht.» All diese Dialoge könnten wir uns sparen, wenn die Kinder etwas länger als zwei Sekunden suchen würden. Das tun sie aber praktisch nie, weil: keine Lust, kein Anreiz, keine Energie. Zeigen wir ihnen doch, dass sie es selbst können und sagen: «Wer sucht, der findet». Denn der Spruch macht allein den Suchenden verantwortlich und sagt eigentlich nichts anderes als «wenn du es nicht gefunden hast, dann hast du wohl zu wenig lange gesucht». Trifft doch praktisch immer zu. Ähnliche Sprüche: «Probieren geht über Studieren»
Lerneffekt: Beharrlichkeit, Ausdauer
Man darf es ihnen nicht übel nehmen, aber Kinder sind kleine Egoisten. Und müssen zuerst lernen, mit anderen Menschen zusammenzuleben. Bis dahin setzen sie auch mal die Fäuste ein, um ihren Willen durchzusetzen. Das ist völlig normal. Um Empathie und Rücksicht zu üben, müssen Kinder jedoch auch mal einen Eindruck bekommen, wie sie ihre Mitmenschen behandeln. Im Grunde veranschaulicht der Satz Kants Kategorischen Imperativ: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Schreit mein Stiefsohn befehlend: «Ich will fernsehen», gehe ich sicher nicht wohlwollend darauf ein, sondern gebe autoritär zurück: «Räum erst mal dein Zimmer auf». Es funktioniert natürlich auch auf die positive Seite: nett gefragt ist schon fast bekommen. Ähnliche Sprüche: «Man erntet, was man sät», «Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus»
Lerneffekt: Empathie, Gerechtigkeit, Rücksicht
Reto Hunziker ist Vater von zwei Kindern (1 und 11 Jahre alt). Aus Erfahrung weiss er: Diese funktionieren keineswegs wie Maschinen. Deswegen sagt er sich öfters: «Geduld bringt Rosen» und «Man muss fünf auch einfach mal gerade sein lassen».