Wochenbett
Unterstützung im Wochenbett
Von Stefanie Nickel
Die Hormone stehen Kopf, der Körper heilt Geburtswunden und produziert Milch – und dann ist da noch ein Baby, das fast rund um die Uhr Hingabe einfordert. Die Transformation zur Mutter verlangt Frauen einiges ab und wird unterschätzt. Warum es sich lohnt, nach der Geburt abzutauchen und dabei ein Dorf um sich zu versammeln.
Als Melanie Gränicher-Berchten ihre Tochter Linda bekam, war sie im siebten Himmel. Die Geburt verlief komplikationslos, sie freute sich über ihr Baby und kam, umsorgt von Familie und Freunden, schnell wieder zu Kräften. Ihre Mutter kochte Gemüsesuppe, die Freundin Lasagne – und meist war jemand da zum Sprechen oder zum Spazierengehen. (Für alle, die keine umsorgenden Bekannten um sich haben: Hier geht's direkt zu Angeboten für Unterstützung nach der Geburt.)
Aber da waren auch die Tränen, sie kamen an Tag drei. Die 31-Jährige wusste nicht woher, sie liefen einfach. Gedanken daran, wie sehr sich ihr Leben verändern würde, wie schwer die Verantwortung wog, die sie trug – und dann das schlechte Gewissen über diese Gedanken und die manchmal aufkommende Sehnsucht nach dem früheren Leben.
Die junge Mutter spürte, wie tiefgreifend die Veränderung war, die sie im Wochenbett durchlief, auf körperlicher aber vor allem auf mentaler und emotionaler Ebene. Von der in Vollzeit arbeitenden Pflegefachfrau musste sie in die Mutterrolle finden.
Etwa 80 Prozent der jungen Mütter durchleben nach Angaben der Psychologin und Forscherin Rita Amiel Castro von der Universität Zürich einen Babyblues, der meist zwei bis drei Tage nach der Geburt einsetzt und bis zu drei Wochen dauern kann. Stimmungsschwankungen im Wochenbett sind also nicht die Ausnahme, sie sind die Regel. «Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Schwankungen eine Folge rasanter hormoneller Veränderungen in den emotionalen Zentren des Gehirns sein könnten», erklärt Castro.
Wochenbett hat drei Phasen
Was im Wochenbett passiert, ist komplex und vielschichtig – emotional wie körperlich. Und die wenigsten Frauen sind darauf vorbereitet. Heidi Simoni, Direktorin des Marie Meierhofer Instituts für das Kind (MMI), das die frühe Entwicklung von Kindern und Familien in den Blick nimmt, macht drei Phasen des Wochenbetts aus:
- Die Frau erholt sich körperlich von der Geburt, die schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen bilden sich zurück, das macht sich durch Nachwehen und den Wochenfluss bemerkbar. Gleichzeitig richtet sich der Körper auf Stillen und Fürsorge ein.
- Die junge Mutter baut eine intime Beziehung zu dem Baby auf, lernt, seine Zeichen zu deuten und zu reagieren.
- Schliesslich wird sie von der Frau zur Mutter, aus einem Paar werden Eltern. Es entsteht eine Familie mit neuen Routinen und einem veränderten Alltag – und all das, während das Hormonsystem der Frau kopfsteht.
Gerade die Phasen 2 und 3 gingen weit über die ersten sechs bis acht Wochen hinaus, die gemeinhin für das Wochenbett veranschlagt werden, betont Simoni. «Es braucht viel Zeit und Musse, um in dieser neuen Welt mit Baby anzukommen und sich als Mutter zu finden. Es können bis zu neun Monate vergehen, bis eine Familie komplett wieder im Alltag auftaucht.»
Zukunftssorgen im Wochenbett
Doch an Zeit und Musse mangelt es. In der Schweiz endet der Mutterschaftsurlaub nach 14 Wochen, das sind 98 Tage, um die Weichen für ein neues Leben zu stellen. Und so drängen schnell Fragen in den Fokus, die nicht in das Wochenbett gehören: Wie schaffe ich es, schnell wieder zu funktionieren und im Job nahtlos anzuschliessen? Wie organisiere ich die Betreuung meines Babys? Sollte ich dafür gleich wieder abstillen?
«Die Frauen müssen den dritten vor dem ersten Schritt machen», sagt Heidi Simoni. «Sie können sich kaum auf das Wochenbett einlassen.» Simoni fordert daher zusammen mit der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen ein 38-Wochen-Modell, das Frauen (und Männern) eine Auszeit von bis zu einem Dreivierteljahr zugesteht.
Elternzeit wäre gut
Damit stösst sie auf die einhellige Unterstützung von Hebammen. Denn es würde den Frauen guttun, einfach mal eine Weile lang abzutauchen: «Mehr Zeit wirkt wie ein Lebenselixier, das Wunden heilt und die Beziehung zwischen Mutter und Kind stärkt», sagt Hebamme Carolina Iglesias. Sie hat 2015 in Zürich den Verein Familystart mitgegründet und vermittelt jährlich Hebammen in rund 3500 Familien.
Immer wieder beobachtet sie, dass Frauen nicht auf das Wochenbett vorbereitet sind. Gerade beim ersten Kind bedeute die Geburt oft eine Vollbremsung. Während vorher Arbeit und Karriere im Vordergrund stünden, seien plötzlich 24 Stunden Hingabe gefordert. «Viele Frauen unterschätzen, was diese Transformation be¬deutet», sagt Iglesias.
Das Institut für Hebammen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen¬schaften hat deswegen 2020 sein Curriculum umgestellt. Das Ziel: Das Wochenbett stärker in den Fokus rücken – mit all seinen Aspekten.
Tatsächlich spielen Hebammen eine immer wichtigere Rolle, seit sich der Aufenthalt in Spitälern verkürzt und Hebammenbesuche bis zum 56. Tag nach der Geburt finanziert werden. Die Hebammen kümmern sich um die physische Gesundheit von Mutter und Baby, unterstützen die Frauen auf emotionaler Ebene und helfen, dass junge Familien sich wieder im Alltag einfinden. Aber die Unterstützung der Hebamme, die nur eine beschränkte Anzahl Hausbesuche machen darf, hat Grenzen – und so braucht es weitere Hilfe.
Mütter brauchen Unterstützung im Wochenbett
«Frauen sollten im Wochenbett nahe Menschen um sich versammeln, die einkaufen, kochen und Geschwisterkinder zum Kindergarten bringen, damit Mutter und Baby sich aufeinander konzentrieren können», sagt Beleghebamme Carolina Iglesias. Damit tun sich junge Frauen hierzulande offenbar schwer: Iglesias muss in den Familien immer wieder nachhaken: Wer hilft euch? Wo sind die Mütter, Schwestern und Freundinnen?
In vielen Kulturen der Welt ist die Tradition der Mütterpflege fest verankert. In China wird das Zuo Yuezi praktiziert: Die Mutter hütet das Bett, stillt ihr Baby und erholt sich von der Geburt, während die Frauen der Familie nach einer von der Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin festgelegten Reihenfolge wärmende und nährstoffreiche Suppen und Eintöpfe auftischen.
Sie kochen, erledigen den Haushalt und kümmern sich um ältere Kinder. Die Mutter kommt zur Ruhe. «Es geht darum, seine Energiereserven aufzufüllen, für das Leben und für die Geburt weiterer Kinder», sagt Heng Ou, die in Los Angeles lebt und in ihrem Buch «Die ersten vierzig Tage» (2017) das chinesische Ritual der Mütterpflege in die moderne Welt überträgt.
Doch nicht immer sind Freunde und Familie in der Nähe. Und nicht immer wollen junge Mütter deren Hilfe annehmen. So gibt es immer mehr Dienstleistungen für Geburt und Wochenbett.
Die Münchnerin Kirsten Seidl gründete 2011 einen Lieferservice für das Wochenbett und war damit eine Pionierin im deutschsprachigen Raum. Bei Hebammenverbänden hiess es damals: «Unsere Mütter kochen selbst». Heute beliefert «Mother’s Finest» junge Familien in ganz Europa. 500 bis 700 Pakete mit Suppen, Eintöpfen und Currys versendet sie monatlich – immer häufiger auch in die Schweiz.
Ihre Speisen seien kräftigend, milchbildend und reich an Eisen, Folsäure und B-Vitaminen. Die Idee kam ihr nach der Geburt ihres dritten Kindes, als sie mit dem Baby auf der Hüfte einarmig in der Küche kochte. Sie war gestresst und allein und dachte: So sollte das nicht sein. «Dass Freunde und Familie die Mutter ständig bekochen, entspricht nicht der Realität», sagt Seidl.
Hilfe von aussen holen
In manchen Situationen kann es sich deshalb lohnen, Hilfe von aussen zu holen. Sei dies, indem man sich Mahlzeiten bestellt oder indem eine erfahrene Person nach Hause kommt, die unterstützt, zuhört und berät.
Im Projekt «Starthilfe Elternzeit» des Schweizerischen Roten Kreuzes entlasten Freiwillige während 10 bis 14 Wochen die junge Mutter oder die junge Familie. Auch manche Doulas in der Schweiz bieten Wochenbettbetreuung an.
Awitall Zingg-Bollag aus Baden, zum Beispiel, hilft Eltern vor der Geburt bei der Organisation des Wochenbetts – und unterstützt danach dort, wo Hilfe notwendig ist: Sie hört zu, wenn junge Mütter von Stillproblemen, Schlafdefizit und ihrem Geburtserlebnis berichten. Sie faltet Wäsche, räumt Spülmaschinen aus und schaut nach Geschwisterkindern. «Ich habe das Gefühl, dass Frauen besser darin werden, ihre Ansprüche zu formulieren und im Wochenbett für sich zu sorgen», sagt Zingg-Bollag.
Melanie Gränicher-Berchten, die im September 2020 ihre Tochter Linda bekam, ist wieder im Alltag angekommen – mit neuen Routinen und dem Wissen, dass sie gewappnet ist für das Leben mit Kind und für ihren Job.
«Ich hatte Glück, weil ich mich von meinem Umfeld aufgehoben gefühlt habe», sagt sie. «Was es aber bedeutet, Mutter zu werden, habe ich unterschätzt.»
Unterstützung nach der Geburt
Wo im Wochenbett Hilfe von aussen zu holen ist – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
♦ Ist eine Spitalzusatzversicherung vorhanden, kann darin ein Beitrag für eine Haushaltshilfe nach einer Geburt enthalten sein. Versicherungsdeckung prüfen.
♦ Auf eigene Kosten lässt sich Unterstützung organisieren, z.B. über ➺ doula.ch oder das Schweizerische Rote Kreuz (Infos über ➺ familie.redcross.ch, Wohnkanton anwählen). Die Kantonalverbände der Landfrauen bieten praktisch flächendeckend in der Schweiz Familienhilfe und Haushaltsservices an (➺ landfrauen.ch).
Es gibt auch zahlreiche regionale Anbieter («Haushaltshilfe nach Geburt» + eigene Wohnregion googeln), zum Beispiel in der Region Burgdorf ➺ familienhilfe.ch, oder im Seetal ➺ eltern-kind-familie.ch.
♦ Lieferdienste mit speziell aufs Wochenbett abgestimmten Mahlzeiten gibt es zum Beispiel von ➺ mothersfinest.org. In der Region Bern-Thun liefert À Table Mahlzeiten an Wöchnerinnen (➺ atable-mzd.ch).
♦ Eine Anlaufstelle für weiterführende Adressen ist immer auch die lokale Mütter- und Väterberatung.