Bettnässen ist ein Tabu. Der Hormonspezialist Dr. med. Urs Eiholzer, über Windeln, Wäschewaschen und einen Wecker in der Hose.
wir eltern: Eltern machen sich Vorwürfe, wenn ihr 6-Jähriger noch ins Bett pinkelt. Zu Recht?
Urs Eiholzer: Nein. In dem Alter ist Bettnässen völlig normal.
Normal? Angeblich sind doch schon im Kindergarten alle sauber.
Aber nur angeblich. Laut medizinischer Definition gilt als normal, was bei mehr als 3 Prozent auftritt. Unter Jugendlichen und Erwachsenen ist es einer von hundert, aber 10 Prozent aller 7-Jährigen machen mehrmals wöchentlich nachts ins Bett. Ein 6-jähriger Bettnässer ist also, in der Tat, völlig normal.
Hartnäckig geistert in den Köpfen die Vorstellung herum, dass ein Kind, das ins Bett macht, psychische Probleme hat.
Die Fakten sind anders. Man muss zwischen zwei Formen unterscheiden. Erstens die «primäre Enuresis», das nächtliche Einnässen ohne jemals zuvor trocken gewesen zu sein. Und zweitens die «sekundäre Enuresis», ein erneutes Ins-Bett-Machen, obwohl das Kind zuvor mindestens sechs Monate trocken war. Eigentlich macht es nur im zweiten Fall Sinn, nach psychischen Ursachen zu suchen, wie Schulproblemen, Scheidung, Geburt eines Geschwisters oder Ähnlichem. Im ersten und viel häufigeren Fall ist es entweder – ich wiederhole mich – normal, ein Reifungsprozess und erblich.
Und was ist mit dem Leidensdruck?
Wessen Leidensdruck? Seien wir ehrlich: den haben vor allem die Eltern, weil ihr Kind so nicht ganz perfekt zu sein scheint. Zumindest bei einem Kindergartenkind. Die Motivation trocken zu werden, ist bei kleinen Kindern einfach noch nicht gross genug. Hier gilt es, Geduld zu haben und abzuwarten. Wenn es nicht aufgrund der Reifung von alleine weggeht, steht dem Kind ein hartes Stück Arbeit bevor. Aber es ist das Kind, das trocken werden will und bereit sein muss, dafür etwas zu leisten. Das ist fast immer erst im Schulalter der Fall, wenn Übernachtungen bei Freunden oder im Klassenlager anstehen.
Wie kann man seinem Kind diese Arbeit erleichtern?
Sie ist wirklich Sache des Kindes und sein Problem. Schönreden und «erleichtern» hilft nichts. Das Problem muss vor die Augen. Es hilft also dem Kind kein bisschen, wenn die Mama morgens schnellschnell das Laken abzieht, sondern eigentlich sollte der Bettnässer, je nach Alter, dabei mithelfen. Man soll aber bloss keine grosse Geschichte darum machen.
Und wenn die Situation für alle Beteiligten belastend wird?
Dann muss man gemeinsam mit einem kompetenten Arzt etwas unternehmen. Auch deshalb, damit nicht als Folge des Einnässens psychische Probleme wie Abkapselung und Minderwertigkeitsgefühle auftreten. Denn meist kommen erst die nassen Laken und dann die Probleme – nicht umgekehrt.
Was halten Sie von den Pipi-Stopp-Nasensprays?
Diese Nasensprays oder Tabletten sind sicherlich manchmal der einfachste und schnellste Weg – wenn sie wirken. Nur bei etwa 60 Prozent der Kinder funktioniert das. Es wird ein Hormon verabreicht, das dafür sorgt, dass sich nachts weniger Urin bildet, daher sammelt sich nicht so viel Flüssigkeit in der Blase, und dadurch gibt es seltener nasse Missgeschicke. Das ist simpel. Hört man aber mit dem Medikament auf, hört auch die Wirkung auf. Die Rückfallquote liegt bei 80 Prozent. Lerneffekt: null.
Sie raten ziemlich vehement ab.
Nein, das stimmt nicht. Häufig ist dieses Nasenspray eine gute Sache. Etwa wenn ein Lager oder eine Übernachtung bei Freund oder Freundin anstehen, kann so ein Medikament sehr nützlich sein. Bei korrekter Anwendung sind ja keine Nebenwirkungen bekannt. Aber wer das Übel bei der Wurzel packen möchte, ist mit anderen Methoden besser beraten.
Mit dem sogenannten Klingel-Höschen?
Ein blöder Name. Wir sagen Weckapparat. Zumal das Ding überhaupt nicht klingelt, sondern die oft tief schlafende Person durch ein lautes Geräusch weckt, sobald Feuchtigkeit in den Slip geraten ist. Der Betroffene wird wach und kann aufs WC gehen. Das funktioniert allerdings nicht ganz so einfach, wie es sich anhört.
Wieso nicht?
Wenn Sie eine Waage kaufen, nehmen Sie damit auch nicht automatisch ab, oder? Ein Arzt sollte das Ganze mit Rat, Aufmunterung und Tipps begleiten. Weckapparate sind sinnvoll als Verhaltenstraining, und um die Motivation zu stärken. Das Kind muss mit dem Weckgerät zuerst lernen aufzuwachen; dann muss es verstehen, weshalb es aufgewacht ist und aufs WC gehen... Dies kann in den ersten Tagen für Kind und Eltern ziemlich anstrengend sein.
Das Kind lernt, die Signale seiner Blase nicht zu überhören …
Genau – und dazu braucht es im Durchschnitt etwa 4 Monate. Später kann das Kind dann oft wieder durchschlafen, ohne ins Bett zu machen.
Zur Person
Dr. med. Urs Eiholzer leitet das Pädiatrisch-Endokrinologische Zentrum Zürich PEZZ (früher: Institut Wachstum Pubertät Adoleszenz).