Schulkind
Jeden Tag schulfrei
Von Veronica Bonilla Fotos Fabian Unternährer
Unschooler schicken ihre Kinder weder in die Schule noch unterrichten sie zu Hause. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Ein Besuch bei einer Freilerner-Familie im Oberaargau.
Ungewöhnlich früh, auf sieben Uhr, hat Demian seinen Wecker gestellt. Normalerweise wacht er erst um neun Uhr auf, doch heute kommt Besuch. «Ich wollte genug Zeit haben», erklärt der 7-Jährige. Um noch ein halbes Stündchen liegen zu bleiben, bevor sich die grosse Zehe unter der Bettdecke hervorwagt, um mit Labrador Flash herumzutollen und wie jeden Morgen mit der Familie den Tag zu besprechen – inklusive der Arbeiten, an welchen er sich heute beteiligen will: zum Beispiel Tisch decken, Post holen, Brot backen.
Als die Journalistin endlich da ist, den Weg auch ohne Navigationshilfe aber mit Verspätung in den Weiler Schwarzenbach hinter dem nördlichen Wald von Langenthal gefunden hat, sind Demian, seine Brüder Joey (5) und Dean (1,5) mit Mama Jeannine Grütter (29) gerade im Keller und schauen zu, wie der Kaminfeger und die Kaminfegerin Russ aus dem Heizkessel bürsten und saugen. Und hätten wohl noch länger geguckt, wenn sie dem Besuch nicht ihr ungewöhnliches Haus zeigen wollten: Der Raum nebenan ist so gross wie eine Turnhalle, es gibt eine Gemeinschaftsdusche, im Gang eine lange Garderobe. «Sie hat 31 Haken», ruft Demian, während er sich an ihnen entlanghangelt.
Freigeist versus Norm
Welche Ironie: Die Familie Grütter-von Känel lebt in einem Schulhaus, in einer 3-Zimmer-Wohnung im ersten Stock. Daneben wohnt noch eine zweite Familie, doch sonst steht das Schulhaus leer. Seit 2004 wird hier nicht mehr unterrichtet, jetzt aber wieder gelernt: Demian und Joey sind sogenannte Freilerner oder Unschooler; Lebensentdecker nennt Jeannine Grütter ihre drei Kinder im gleichnamigen Blog. Im Zimmer der Buben steht zwar ein altes Schulpult aus dem Brockenhaus, keiner sitzt jedoch regelmässig dort. Unschooling bedeutet, dass die Kinder lernen, wofür sie sich gerade interessieren, ohne fixe Unterrichtszeiten, ohne Stundenpläne. «Ich bin überzeugt, dass Kinder von Natur aus und von Geburt an lernen wollen und können, doch sollen sie dies aus eigenem Antrieb tun», sagt Jeannine Grütter, die in ihrer elfenhaften Art wirkt wie das Gegenstück zur «Tiger Mom» Amy Chua, die sich in ihrem viel diskutierten Bestseller zu einem unerbittlichen Erziehungsstil bekannte.
Der alternative Trend, der vor allem aus dem englischsprachigen Raum kommt, gewinnt auch hierzulande Anhänger: Eine winzig kleine, aber wachsende Zahl von Eltern, viele davon Künstler, Bildungsbürger, Aussteiger, Akademiker – allesamt Freigeister, will ihre Kinder nicht mehr traditionell unterrichten lassen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Das staatliche Schulsystem sei ineffizient, schränke das Kind ein und fokussiere zu oft auf Defizite. Ausserdem verliere die Freude am Lernen, wer in Lektionen von 45 Minuten Stoff büffeln müsse, der einen oftmals gar nicht interessiere und nach der Prüfung meist sofort vergessen werde. Auch die normierten Erwartungen an die Kinder und der hohe Leistungsdruck schrecken ab. «Wir spüren, dass etwas nicht mehr stimmt», sagt Erwin Wagenhofer, Regisseur des Films «Alphabet», der sich mit unserem Bildungssystem befasst. «Wir leben in einem Gefängnis mit offenen Türen. Wer sind die ersten, die sich hinaustrauen?»
Jeannine Grütter und Simon von Känel wirken auf den ersten Blick wie ganz normale Eltern, bloss etwas jünger als der Durchschnitt: Er war 20 und sie 22 als ihr erstes Kind, ein Wunschkind, wie beide sagen, auf die Welt kam. In den ersten Jahren blieb Simon von Känel zu Hause und Jeannine Grütter arbeitete Vollzeit als Kindergärtnerin. «Ich war sehr überzeugt von meinem Beruf», erzählt sie, «schnell merkte ich aber, dass vieles nicht ‹verhebt›, weil die Kinder so unterschiedlich sind, etwa in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit, ihrem Temperament oder ihren Interessen.» Mit dem Wunsch im Hinterkopf, die Schule zu verändern, bildete sie sich weiter und wurde Leiterin der Gesamtschule Wynau. «Wir redeten oft darüber, wie es sein würde, wenn unsere Kinder in die Schule gingen», sagt der Vater. Von seiner Seite gab es einige Befürchtungen, da die eigene Schulkarriere nicht gerade erfolgreich verlaufen war: «Schule hat mich nie interessiert. Mir gefielen nur Werken und Sport, je nach Thema auch noch Geschichte.» Lieber sei er draussen gewesen, beim Velofahren oder im Wald.
Ritalin und mehrere Schulwechsel sollten ihn anpassungsfähig machen. Ohne Erfolg. Mit 13 Jahren kam er in ein Heim für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, geführt von den Eltern von Jeannine Grütter. Die Maler- und Landschaftsgärtner- Lehren, die darauf folgten, hat er beide abgebrochen, wegen Mühe mit der Schule. Heute arbeitet er 80 Prozent als Kanalisationsinspekteur.
Lernen nach Lust und Laune
«Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass meinen Kindern nicht das Gleiche passieren wird wie mir, dass sie lernen können, was sie interessiert», sagt Simon von Känel. Während gleichaltrige Erstklässler 24 Stunden in der Woche Heftlinien mit krakligen Buchstaben füllen, über Turnbänke balancieren, plus und minus rechnen, lachen, streiten und lernen, ruhig am Pult zu sitzen, wenn die Lehrerin es verlangt, können Demian und seine Brüder tun und lassen wonach ihnen gerade ist. Fast jedenfalls. Herausfinden, wie man einen Waldbrand löscht und das Wort FEUERWEHR schreibt, lernen, wie man Metall macht und die Schuhe bindet – das sind Ziele, die Demian auf den Wochenplan gesetzt hat, den die Familie am Sonntagabend jeweils gemeinsam festlegt. «Natürlich möchten wir, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen», sagt Jeannine Grütter, «genauso wie sie Laufen und Reden gelernt haben. Doch erst, wenn sie selber parat dafür sind.»
Gut ein Jahr ging Demian in den Steiner- Chindsgi in Langenthal, Joey wenige Wochen. Gern gegangen seien beide nicht lange: Die grosse Gruppe und das dauernde Aushandeln der Hierarchien hätten Demian sozial überfordert, erzählt Jeannine Grütter. «Wir mussten viel reden, es war ein Stress für ihn.» In der Zwischenzeit hatten die Eltern die Rollen gewechselt: Er ging arbeiten, sie blieb zu Hause und begann, sich mit Unschooling und dem Lernen im Allgemeinen zu befassen. Als Joeys eigensinniges Verhalten im Kindergarten zum Problem wurde, wussten die Eltern, dass die Freilerner-Methode der richtige Weg sein würde. Eine bewegte Zeit folgte. Der Entscheid brauchte Mut, löste Diskussionen aus. Jeannine Grütter erinnert sich, wie ihre Schwester sie gefragt habe: Was veränderst du damit am Schulsystem? «Ich antwortete: Wir zeigen, wie Bildung auch gehen kann.»
In der Schweiz aber will der Staat ein Wörtchen mitreden. Schulpflicht gibt es zwar keine, Kinder können auch zu Hause Bildung erhalten. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch in jedem Kanton anders (siehe Box). Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Lehrplanziele erreicht werden müssen. Weil diese jeweils für mehrere Schuljahre formuliert sind, bleibt Unschoolern Spielraum. In manchen Kantonen haben die Kinder regelmässig zu Prüfungen anzutreten. Die Familie Grütter wird einmal jährlich von der Schulinspektorin besucht, die sich vor Ort ein Bild macht von der Situation. «Tests gibts keine, mir ist aber wichtig, dass ich mit den Eltern im Austausch bin und gegenseitiges Vertrauen besteht», sagt Silvia Jäger. Obwohl sie klar eine Vertreterin der Volksschule sei, könne es sein, dass im Einzelfall häusliches Lernen dem Kind entgegenkomme: «Der Druck ist vermutlich kleiner zu Hause.» Trotzdem dürfe das Kind den Anschluss ans öffentliche Bildungssystem nicht verlieren, die Lehrplanziele müssten erfüllt werden.
Es ist in unserer Gesellschaft ungewohnt, wenn Eltern die Schule nicht nur kritisieren, sondern die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder selber übernehmen. Kann das gut gehen, auch über die Unterstufe hinaus? Die Grütters stehen ganz am Anfang. Erfolgsgeschichten von Freilernern sind vielfältig. Jugendliche bereiten sich oft aus eigenem Antrieb auf Prüfungen vor, wie Deutschlands bekanntester Freilerner, Moritz Neubronner: Der 17-Jährige ging nur drei Monate zur Schule und hat im vergangenen Sommer mit der ausgezeichneten Note 1,4 den Abschluss erreicht.
Demian interessiert sich gerade fürs Fotografieren. Von einem Freund der Familie hat er eine alte Spiegelreflexkamera erhalten, zusammen gehen sie hin und wieder auf Fotoreportage. Auch im Wald ist er gern, darf manchmal einen Förster begleiten. Die Verantwortung ist gross, welche die Eltern übernehmen, wenn sie die Kinder nicht in die Schule schicken. Viel Vertrauen ist nötig; die grösste Angst, die Eltern hätten, sei die, dass aus dem eigenen Kind nichts werde, sagt ein Experte im Film «Alphabet».
Geduld brauchts ebenfalls, und nicht zu knapp. Welche Mutter atmet nicht auf, wenn die Ferien zu Ende sind und Ruhe in die Wohnung einkehrt? Auch Freilerner-Kinder streiten, bewerfen sich mit Kastanien und Korken, drängeln den jüngeren Bruder unsanft beiseite, sodass dieser energisch protestiert. In der Regel sind es die Mütter, die sich um die Kinderbetreuung kümmern, für Unschooling scheint dies fast noch häufiger zuzutreffen. In der Facebook-Gruppe «Schulfrei Leben Schweiz» sind von 84 Mitgliedern gerade mal zwei männlich.
Mangelware Gspänli
Doch was tun, damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt? Jeannine Grütter arbeitet 40 Prozent als pädagogische Leiterin in einem Heim. Regelmässig rausgehen, ist ein Rezept: «Flash ist Gold wert, mit ihm müssen wir schon morgens eine halbe Stunde spazieren gehen», sagt die Mutter. Nachmittags gehts dann ins Turnen mit anderen Freilern-Kindern in einer Turnhalle bei Bern. Oder zum Schwimmen, in den Musikunterricht, ins Fussballtraining. Schliesslich sollen sich die Kinder nicht nur im engen Kreis der Familie bewegen. «Mein Wunsch ist, dass wir uns zwei bis drei Mal wöchentlich mit einer Kindergruppe treffen, sodass sich auch engere Freundschaften entwickeln können», sagt Jeannine Grütter. Platz dafür hätte es im Schulhaus reichlich.
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