Reportage / Alter Silvester
Im Chlausenfieber

Anne Gabriel-Jürgens


















Seit Tagen tragen Urs Langenauer (44) und seine beiden Söhne Jan (11) und Sven (7) den «Fetzen» um den Hals. Das rote Tüechli ist eine Art Barometer für das Chlausenfieber. Wird es nicht mehr abgelegt, bedeutet das: hoch akuter Schub. Das erste Mal greift die Euphorie kurz nach Weihnachten um sich. Zeit zum «Groschte» für die «Wüeschte» und die «Schöwüeschte». Der «Groscht» ist eine Kutte, an welcher dicker Gummifaden eingezogen ist und jetzt frisches Tannenreisig oder Stechpalmen befestigt werden.
Hauben und Gewänder der «Schönen» sind längst parat. Wochenlang haben die Chläuse und ihre Familien abends und an Wochenenden Blusen, Westen und Hosen genäht oder ausgebessert, Figürchen geschnitzt für die Szenen auf den Hauben, diese mit Glanzpapier dekoriert und in unzähligen Stunden von Hand kleine Glasperlen angenäht. Auch die «Schöwüeschte» waren beschäftigt; ihre Hüte verzieren sie jedoch mit Naturmaterialien, handgeschnitzten Handwerksleuten, Tieren, Pferdegespannen. Die Buben und Männer haben dabei öfter mal den «Fetzen» getragen. «Der Silvester wird das ganze Jahr über gelebt», sagt Urs Langenauer, Einsatzdisponent bei der Kantonspolizei, «uns verbinden Freundschaften.»
Zapplig vor Freude
Urnäsch hat, was den Silvester angeht, eine eigene Zeitrechnung (siehe Box) und feiert ihn gleich zwei Mal. Am 31. Dezember, dem neuen Silvester, sind die Chläuse im Dorf vorne unterwegs. Morgen früh, am 13. Januar, geht es ins hinterste Hinterland. Zuerst hinauf zu den Bauernhöfen. Gegen Mittag werden die Chlausgruppen, Schuppel genannt, einer um den anderen ins Tal hinunter steigen, wo sie von Tausenden extra Zapplig vor Freude angereisten Touristen erwartet und bewundert werden. Und fotografiert.
Aber noch ist es nicht so weit. Jetzt, kurz nach vier Uhr nachmittags am Vortag, kommen die Kinder nach Hause. Jan zusammen mit Nachbarsbub Hansruedi von der Schule, der jüngere Sven, schon ganz zapplig vor Vorfreude, war mit dem Bob draussen im Schnee. Aus der Küche riecht es nach Bündner Gerstensuppe; Claudia Langenauer kocht vor, damit sie morgen nicht am Herd stehen muss. «Für Hausbesitzer ist es das Schönste, wenn die Chläuse vorbeikommen», sagt die 41-Jährige, die Teilzeit in einer Kinderarztpraxis arbeitet. Am alten Silvester hat sie selbstverständlich freigenommen.
Schnell etwas trinken, Zvieri essen, danach wollen Jan und Hansruedi «d’War», also Schellen, Rollen und Hauben, dahin bringen, wo sie sich morgen um sieben Uhr treffen werden: in die Bäsebeiz «Hofstöbli», am hinteren Osthang des Tals. Jans und Hansruedis Schuppel besteht dieses Jahr nur aus drei «Mannevölcher» oder Schelli und einem «Wiib» oder «Vorrolli»; der «Noorolli», Hansruedis zwei Jahre älterer Cousin, hat sich einem Schuppel mit Gleichaltrigen angeschlossen. In Hansruedis Klasse in der ersten Sek chlausen drei von zwölf Schülern, er selber seit er zweijährig ist. «Es würde mich reizen, mal nicht zu gehen, aber ich glaube, ich würde es nicht aushalten », sagt er. Svens Schuppel hingegen ist komplett, die Kindergärtler und Erstklässler sind zu sechst.
Die Familie Langenauer ist eine typische Chlausfamilie, wie es in Urnäsch viele gibt. Vater Urs ist in einem Schuppel dabei, seit er vier Jahre alt ist und hat bisher keinen einzigen Silvester ausgelassen. Als Kind ging er «schöwüescht», heute «schön». Auch Grossvater Langenauer ging Chlausen, zum Schluss «wüescht», mit einer gfürchigen Larve aus Geweih, Kuhzähnen und Hörnern, die den kleinen Kindern gehörig Angst einjagte. Und jetzt die Buben. Vater Urs hat dem damals knapp dreijährigen Jan ein Hüetli gebastelt, ein «Gröschtli» brauchte es auch und kaum konnte Sven, der jüngere Bruder, sich einigermassen auf den Beinen halten, wurde auch er mit dem Chlausfieber infiziert. Es sei ein spezieller Moment, wenn man als Chlaus unterwegs seinen Kindern begegnet, die ebenfalls als Chläuse verkleidet sind, sagt Urs Langenauer. «Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich mich an die Begegnungen mit meinem eigenen Vater erinnere.»
Anfang des 15. Jahrhunderts realisierten Wissenschaftler, dass der nach Julius Cäsar benannte julianische Kalender falsch berechnet und das Jahr 11 Minuten zu lang war, sodass sich die Jahreszeiten irgendwann verschieben würden. Es wurden Reformen vorgeschlagen, unter anderem von Kopernikus, einem der bedeutendsten Astronomen der Neuzeit. Doch erst am 24. Februar 1582 verkündete Papst Gregor XIII. die Änderung des fehlerhaften Kalenders – im Oktober desselben Jahres wollte man die fehlenden 10 Tage ausfallen lassen, auf den 4. sollte der 15. Oktober folgen. Die Irritation war beträchtlich, die Umstellung auf den gregorianischen Kalender erfolgte nur zögerlich; besonders lange sträubten sich die protestantischen Gebiete gegen die päpstliche Weisung. In der Schweiz und vor allem im Appenzell wurde der gregorianische Kalender zum Zankapfel der Konfessionen. 1724 stellte schliesslich auch Ausserrhoden auf den neuen Kalender um, der schliesslich eine Differenz von 13 Tagen gegenüber dem alten aufwies. In einzelnen Volkskalendern waren aber weiter beide Zeitrechnungen nebeneinander abgedruckt. Manche Traditionen liessen sich nicht verschieben. Noch heute ist im Appenzeller Hinterland das Silvesterchlausen am alten Silvester, also am 13. Januar, wichtiger als am neuen Silvester.
Die Langenauers haben auch noch eine Tochter, Anika (13). Aber der alte Silvester ist ein Männerbrauch. Manchmal wollen sich kleine Mädchen ebenfalls verkleiden, aber die Freude daran vergeht ihnen, je älter sie werden, denn irgendwie finden es alle «komisch». Und abgesehen davon: Für die Frauen seien die Schellen einfach zu schwer; dass sie auch kleinere tragen könnten, zum Beispiel wie die Kinder, scheint undenkbar zu sein. So kommt es, dass unter den farbig geschminkten «Wiiber»-Larven in Frauenkleidern Buben und Männer stecken, was wiederum niemand komisch findet. Doch: «Der Tag gehört den Männern», sagt Claudia Langenauer, «die Frauen mögen es ihnen gönnen.»
Am Silvester-Vorabend ist Sven um halb acht im Bett, sein Bruder Jan eine Stunde später. Der nächste Tag wird lang und streng – wer ausgeruht ist, kann ihn besser geniessen. Bei Vater Urs wirds etwas später. Die erwachsenen Chläuse treffen sich zur Einstimmung in einer Wirtschaft oder am Ort, wo sie am Silvestermorgen ihren «Strech», die Route, beginnen.
Traliduli-ühahoo
Morgens um sieben Uhr ist es stockfinster und eiskalt. Sterne funkeln am Himmel, aus den Häusern leuchtet warmes Licht. Wer jetzt die Ohren spitzt und etwas Glück hat, hört ein entferntes Schellen, ein Zäuerli, diesen melancholischen Naturjodel. Im «Hofstübli» sitzen Jan, Hansruedi und ihre beiden Kollegen beim Zmorge, beide im Appenzellerhemd, heute einen weissen «Fetzen » um den Hals, wie es sich für die schönen Silvesterchläuse gehört. In grösster Gemütsruhe stärken sich die Buben mit Birchermüesli, Eiern, Speck, Zopf, Käse und Gonfi.
Schliesslich machen sich auch die Buben parat. Die drei «Mannevölcher» schlüpfen in die roten und grünen Samtwesten und legen sich die schweren Schellen über. Hansruedi, der Vorrolli, trägt eine weisse Schürze über dem roten Rock und 12 kleine, asymmetrische Rollen. Zuletzt kommen die Larven und Hauben. «Wie die Buebe enand hälfed!», freut sich eine Seniorin am Nebentisch. Eine andere meint: «Wenn die Jungen so etwas haben, hat man viele Probleme nicht.»
Seinen ersten Auftritt hat der Schuppel vor der Bäsebeiz, danach gehts den Berg runter zum ersten Haus; die Buben haben ihren «Strech» schon vor Tagen besprochen. «Vorrolli» Hansruedi schüttelt und rüttelt sich wie der viel besungene Bibabutzemann, die «Mannevölcher» wiegen sich mit ihren Schellen gemächlich von links nach rechts und machen einen derartigen Lärm, dass die Bewohner, ein älteres Ehepaar, vors Haus treten. Mit etwas wackliger Stimme stimmt einer der Chläuse ein Zäuerli an, die anderen suchen den harmonischen Begleitton und «hebed grad».
Drei Zäuerli gibts, dazwischen bietet die Frau den Buben aus einem grossen Glas mit einem Röhrli etwas zu trinken an – Rivella, Eistee oder ähnliches – für die Männer gibt es Weisswein, manchmal mit Citro verdünnt. Danach geben die Buben den Leuten die Hand und wünschen «es guets Nöis». Beim letzten Händedruck, fast unbemerkt, wechselt ein Batzen oder ein Nötli den Besitzer, ein Beitrag für die Chlausenkasse – für Neuanschaffungen, Verpflegung oder auch mal einen Ausflug mit dem Schuppel. Ein paar hundert Franken kommen so zusammen, haben die Buben am Vortag verraten. «Aber niemand macht es wegen des Gelds», ergänzte Urs Langenauer. Und überhaupt: «Eigentlich redet man nicht darüber. » Bloss Kärtli werden die Buben hinterher schreiben, um sich bei jenen zu bedanken, bei denen sie am Silvester eine Ruhepause einlegen durften.
Das Silvesterchlausen ist ein urtümlicher Brauch, ein Tag, an welchem die bestehende Ordnung umgekehrt wurde und man «wild tun» durfte. Ursprünglich war der Brauch in der Vorweihnachtszeit angesiedelt, wegen zu lasterhaftem Treiben wurde er jedoch auf den Silvester verlegt. Urkundlich belegt ist er das erste Mal um 1663. Das Chlausen hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Ab 1744 wurden Verkleidungen immer wichtiger. Als die Armut im 18. und 19. Jahrhundert besonders gross war, kam die Bettlerei auf. Auch die Verkleidungen passten sich der Zeit an. Benutzten die «Schönen» bis vor wenigen Jahrzehnten noch Weihnachtsbaumschmuck für ihre Hauben, werden diese heute zeitgemäss mit LED-Lämpchen ausgestattet. Die «Schöwüeschte» gibt es erst seit den 1960er-Jahren. Bis heute ist das Chlausen kein organisierter Brauch, wie der Urnäscher Urs Langenauer bestätigt, sondern mündlich überliefertes Kulturgut.
Um neun Uhr der erste Höhepunkt für die Kinder, jedenfalls für den kleinen Sven. Sein Schuppel macht sich erst jetzt beim Haus eines Freundes parat für den «Strech». Die Waschküche ist voller Mütter, die ihren Kindern beim Anziehen helfen – da noch das Chüngelifell zurechtzupfen oder ein Hüetli grad richten. «Gang jetzt, Mami, lo mi i Rue», tönt es ungeduldig von einem kleinen Bub. Sven ist noch aufgedrehter als gestern, rennt rein und raus und ruft plötzlich: «Das isch min Brüeder!» Und wirklich: Jans Schuppel biegt um die Strassenecke. Mütter, Väter, Kinder und eine Grossmutter – alle kommen vors Haus, versammeln sich um die Chläuse und hören zu.
Traliduli-ühahoo, Traliduli-ühahoo.
«Ihr habt geübt, gäll, das tönt schön», loben die Erwachsenen. Die «Schönen» ziehen weiter. Und jetzt kann endlich auch Sven mit seinem Schuppel auf den «Strech».
Touristenattraktion
Der Tag wird lang für die Kinder. Vor allem der Nachmittag entlang der Hauptstrasse mit den vielen Touristen. Sie werden fotografiert und nicht selten gebeten, doch brav im ganzen Schupppel zu posieren.
Wird es ihnen zu viel, lassen sie es bleiben, schellen und rollen wie verrückt oder ziehen sich in eine der Seitenstrassen zurück. «Abends sind die Kinder völlig erledigt », sagt Claudia Langenauer. Am nächsten Tag haben sie nicht einmal frei. Aber wenigstens erst um 9 Uhr Schulbeginn.