Erziehung / Religion
Hinduismus
Von Text: Caren Battaglia / Fotos: Florian Kalotay
Ein kleiner Altar im Haus mit Getränk und Duft für die Götter gehört für die Uruthirans dazu.
Die Schuhe auszuziehen braucht Mut. Denn auf beiden Seiten von Uruthirans Wohnungstür und Schuhregal hängen schaurige Fratzen: rote und grüne Gesichter mit glühenden Augen und beunruhigend langen Zähnen. «Och, die machen einem nichts», beruhigt Isaippiriya (7). Und ihre Mutter Arulmoli bekräftigt: «Die grossen Augen bewachen und beschützen uns.»
Na dann. Drinnen in dem hellen, neuen Einfamilienhaus riecht es ein wenig nach Räucherstäbchen. Der Geruch kommt aus dem Büro, das auch Haustempel ist. Hier hängt ein kleiner Altar. Bilder der Götter Ganeesha, Durga und Murugan stehen dort. Die drei sind hier als erstes eingezogen. Götter haben Vortritt. Auch der Priester war vor den Uruthirans und ihren Umzugskisten da: um etwaige böse Geister gründlich auszuräuchern, bevor die Familie einzieht. Nun sind die Geister vergrault und vor den Lieblingsgöttern der Familie schwelen Räucherstäbchen. Götter mögen Duft. Ein Schälchen mit Asche vom verbranntem Dung der heiligen Kühe steht auch davor: Auf dass derjenige rein werde, der sich die Stirn damit bestreicht. Und natürlich hat man den Dreien ein bisschen Wasser hingestellt – gegen den göttlichen Durst. «Wasser ist jetzt nicht so toll», entschuldigt sich Arulmoli. «Manchmal stelle ich auch Saft hin oder Milch.» Aber Götter sind nicht mäkelig. Uruthirans sind Tamilen und tiefgläubige Hinduisten. «Meine Eltern gehen jeden Tag in den Tempel», erzählt Kanapathipillai. «Wir selbst beten nur dienstags und freitags hier vor dem Altar, wir haben nicht so viel Zeit.» Schliesslich arbeite er selbst als Informatiker mit eigener Firma, Arulmoli als Dolmetscherin und die Kinder hätten Schule, Sport, Tanzen … Musse, um im Tempel zu beten, bliebe da nur an hohen Feiertagen und Festen. «Ich geh gerne in den Tempel», sagt Tamilpiriyan. Warum? «Weil ich Oma und Opa dort sehe.» «Und weil du mit den anderen Jungs Quatsch machen und Fussball spielen kannst», lacht Kanapathipillai und wuschelt seinen fussballverrückten Sohn die Haare. Für die Asche allerdings hat der Neunjährige wenig übrig. Wenn seine Mutter ihm dienstags und freitags nach dem Gebet die Asche auf die Stirn streicht, wischt er das mit der blitzschnellen Handbewegung ab, mit der sich Jungs nach einem feuchten Schmatzer der Tante die Wange abwischen. Arulmoli findet es okay, dass ihr Sohn nicht mit dem grauen Strich auf der Stirn in die Schule möchte. «Schliesslich leben wir hier in der Schweiz und wollen nicht, dass unsere Kinder Aussenseiter sind.» Mitten in der Gesellschaft sollen sie sein, glücklich – und erfolgreich. «Wir wünschen uns für unsere Kinder die beste Bildung und die besten Berufe», sagt Arulmoli ernst. «Ein Studium wäre gut.» Selbstverständlich lernten schon die Dreijährigen im Tempel erste Buchstaben. «Lesen und Schreiben kann man nicht früh genug lernen, Bildung nie genug haben», finden sie. Deshalb sind die beliebtesten Strafen im Hause Uruthiran auch: Buch lesen und dazu die Fragen im «Antolin» beantworten. «Mit Null Fehlern, versteht sich», Texte abschreiben oder – für die Kleinen: Mandalas ausmalen. «Und nicht über den Rand!»
Murugan verzeiht alles
Zu deprimieren scheints die Kinder nicht. Fröhlich turnen sie auf der Couch herum vor den riesigen goldenen Öllämpchen in Pfauengestalt. Der Pfau ist das Reittier von Murugan, dem Gott, der das Schlechte vertreibt, Schönheit und Stärke verkörpert. «Murugan ist ein prima Gott», sagt Arulmoli vergnügt. «Egal was man gemacht hat, er – schwupp – verzeiht alles. Ich bete gern zu ihm.» Wenn sie lacht, blitzt der Stecker in ihrem Nasenflügel. Das Piercing ist ein Zeichen der verheirateten Frau. Das blinkende Steinchen soll dafür sorgen, dass seine Trägerin «weniger wild» ist. Sanft statt streitlustig.
«Soll dafür sorgen» ist im gläubigen Uruthiran-Haushalt allgegenwärtig. Ein dicker goldener Chinese sitzt als Miniskulptur auf einem Geldsack und soll dafür sorgen, dass die Familie stets genug Geld hat, Götterbilder an der Wand sollen für Gesundheit und Glück sorgen, die japanische Winke-Katze für netten Umgang miteinander. Und das Wasser aus Lourdes, das sie ab und an bei der heiligen Bernadette holen, soll auch was bewirken. «Schaden kanns ja nicht.»
Arulmoli lacht: «Wir sind wahnsinnig abergläubisch. Wir glauben an alles. Aber wir glauben tief.» Selbstverständlich geht sie während der Mens, an ihren «unreinen Tagen», nicht in den Tempel, selbstverständlich hat sie 45 Tage nach der Geburt ihre Kinder dorthin gebracht und selbstverständlich legen die Uruthirans grossen Wert darauf, Mahlzeiten nur in reinem Zustand zu sich zu nehmen: Kein Frühstück ohne geputzte Zähne. Verhandlungsspielraum: keiner. Isaippiriya flüstert ihrer Mutter etwas ins Ohr. «Ja, wir machen uns gleich fertig.» Isaippiriya habe nämlich gleich eine Aufführung von indischem Tanz, erklärt Arulmoli: «Sie macht das sehr, sehr gut.» Das Loben, lächelt die Mutter, hätte sie sich gerade erst angewöhnt. «Schweizer lieben Lob. Die loben alles: das hübsche T-Shirt, die schönen Augen und ihre Kinder ohnehin für jede Kleinigkeit … Wir Hindus loben selten.» Zu gross sei die Angst, dass Lob zu Hochmut und Hochmut zur Strafe der Götter führe. «Vielleicht sind unsere Kinder deshalb weniger selbstbewusst als Schweizer Kinder», sagt der Vater. Und blickt nachdenklich auf seinen Nachwuchs. «Aber wir loben jetzt einfach auch.» Schliesslich wünschten sie sich ausser Gesundheit auch Erfolg für ihre Kinder, ein Studium und ein erfülltes Leben mit tunlichst einem gut bezahlten Beruf. Selbstbewusstsein kann für diese Ziele nur nützlich sein. Und natürlich der Segen der Götter. Zum Abschied blicken einem zwei finstere Fratzen nach. Aber die tun nix, die wollen nur schützen.
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