Monatsgespräch
«Familienliebe als Gesamtkunstwerk»
wir eltern: Herr Winter, Sie haben zusammen mit einer Kollegin ein Buch verfasst mit dem Titel: «Familie – eine Gebrauchsanweisung». Lässt sich die eigene Familie handhaben wie ein Benutzerhandbuch für eine Kaffeemaschine?
Reinhard Winter: Der Begriff «Gebrauchsanweisung» ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Aber wir haben gemerkt, wie hilfreich es sein kann, Familie von dieser Seite her zu betrachten. Viele Eltern, die wir in unseren Beratungen betreuen, kämpfen mit Problemen und fragen sich: Wie kann Familie eigentlich gelingen? Zu spüren, wie der Zusammenhalt schwindet oder Familien auseinanderbrechen, erzeugt Angst und Druck. Es gibt aber wenige Ideen dafür, worauf es im Kern ankommt, um eine Familie «gut zu machen».
Und haben sie das Bindemittel gefunden, das eine Familie zusammenhält?
Es ist eigentlich ganz einfach: Der Zusammenhalt in der Familie entsteht durch die Liebe. Die Familienliebe ist die stärkste Haltekraft. So stark wie die Erdanziehung, die uns auf dem Boden hält. Das unterscheidet Familie von allen anderen Gruppen oder Institutionen. Familienliebe ist auch mehr als Paarliebe, denn in der Familie wirkt Liebe über Generationen. Und sie ist vor allem mehr als nur Harmonie und tolle Emotionen, denn sie wirkt gerade auch in den harzigen Familienphasen. Das merkt man oft erst hinterher, wenn Trotzphasen, Konflikte oder Krankheiten durchgestanden oder die Pubertät gemeinsam bewältigt wurde. Interessant ist nun, dass über die Liebe in der Familie kaum gesprochen wird, weder fachlich, noch privat. Das ist vielen fast peinlich.
Liegt das nicht auch daran, dass das Wort «Familienliebe» – oder «Liebe» überhaupt – ein etwas schwer zu packender Begriff ist?
«Liebe» ist in den Elternberatungen hie und da tatsächlich schwierig zu thematisieren. Wenn sich Eltern von Kindern in der Trotzphase oder in der Pubertät beklagen, ständig nur Kämpfe austragen müssen, bis hin zum Gefühl, ihre Kinder zu hassen, erkläre ich ihnen, dass genau dieser unermüdliche Einsatz ein Teil der Liebe zu ihren Kindern ist. Dann leuchten die Augen der Eltern auf! Es scheint ihnen eine Last von den Schultern zu fallen. Viel schlimmer wäre ja Gleichgültigkeit.
Sie plädieren für die «Familie als Friedensort». Da pinseln Sie gar rosa! Gerade die Familie ist doch ein Hort von Konflikten, Nöten, Rechthaberei …
Frieden in der Familie meint keine Idylle, sondern bezieht sich darauf, wie Streit geregelt wird. Konflikte in der Familie werden anders bewältigt als draussen auf der Strasse, zwischen Bekannten oder in der Politik. Denn es geht trotz Streit liebevoll zu. Und indem Eltern sich mit ihren Kindern auseinandersetzen, bleiben sie verbunden.
Mit dem Begriff «Familienliebe» propagieren Sie eine Norm, die zur Demonstration innigen Zusammenhalts führt – wobei Schein schnell mehr zählen kann als Sein …
Das wäre die Sache falsch verstanden! Da würde man einer «Konsumliebe» auf den Leim kriechen, wo immer alles happy daherkommt. Wir denken Familienliebe eher als Gesamtkunstwerk, zu welchem Gefühle, aber auch Entschiedenheit und Herausforderungen in schwierigen Zeiten gehören. Man muss weder untereinander so tun, als ob immer alles toll sei, noch versuchen, nach aussen hin so zu wirken. Die eigene Familie wie im Hochglanzprospekt darzustellen beherrschen viele. Das ist noch kein Nachweis für die Liebe in ihr. Für mich sind solche Familien eher verdächtig, die so tun, als ob alles immer rund läuft.
Gibt es nicht auch ein Zuviel an «Familienliebe»? So etwas wie ein «Clan-Denken», indem man sich als Familie ungesund abgrenzt von Aussenstehenden?
Zu viel Liebe gibt es nicht. Auch nicht in der Familie. Es gibt aber einen falschen Familienzusammenhalt. Dann etwa, wenn es Geheimnisse gibt. Oder wenn Eltern sehr bedürftig sind und die Kinder brauchen oder harte Machtansprüche stellen. Wenn es sich eng, kalt oder klebrig anfühlt, dann hat der lebendige Fluss der Familienliebe aufgehört. Dann fühlen sich einzelne oder alle Familienmitglieder nicht mehr wohl, Gefühle werden unter den Teppich gekehrt, es wird Zwang ausgeübt, ein erdrückendes Klima
breitet sich aus. Im eng verschweissten Clan riecht es nicht nach Liebe, sondern nach Druck und Gewalt.
Sie räumen insbesondere der Familienzeit eine hohe Priorität ein. So hochgetaktet wie heute war das Leben aber noch nie. Welches sind die grössten «Familienzeiträuber»?
Familienzeit ist heute knapper geworden durch Arbeit, Schule, Freizeit, Fitness und Konsum. So gesehen herrscht eine starke Konkurrenz um die wenige Zeit, und da sollten Eltern einem Spiel, einem Gespräch oder einer gemeinsamen Aktion den Vorrang vor einem Bildschirm geben, egal ob Handy, Tablet oder Fernsehgerät. Ich will sie nicht verteufeln, aber ich stelle in meinen Beratungen schon fest, dass allzu intensiv genutzte digitale Medien dem Familiengefüge schaden können. Die Macht liegt jedoch bei den Eltern. Eltern, die sparsam damit umgehen und der Familie eine höhere Priorität geben als dem Fernseher oder dem Smartphone, sind wichtige Vorbilder für Kinder.
Ein «Familienzeitfresser» ist aber auch der Job …
Das sind sozusagen die Zumutungen von aussen, der Erwartungsdruck von Seite des Arbeitgebers. Da dürften die Eltern manchmal etwas selbstbewusster auftreten und sich die Zeit für die Familie erkämpfen. Und nicht einfach nur hinnehmen, was ihnen geboten wird. Vor allem Väter merken oft erst hinterher, wie kostbar die Familienmomente sind. Sie trauern dann darüber, dass sie es zu wenig geniessen konnten, als die Kinder klein waren.
Wie sieht es denn mit der «Paarliebe» aus? Ist diese nicht die wichtigste Voraussetzung für «Familienliebe»?
Klar. Selbst wenn die Liebe zwischen den Eltern vorübergehend verloren geht – Paarliebe kann auch wieder erwachen. Es ist die Aufgabe der Eltern, etwas dafür zu tun. Für ein Wochenende zusammen wegfahren, ins Kino gehen, nährt die Paarliebe. Selbst wenn die Kinder es als Zumutung empfinden, zwei Tage bei den Grosseltern oder mit dem Babysitter verbringen zu müssen – letztlich tut es der Familie gut.
Dennoch wird fast die Hälfte aller Ehen geschieden. Sollen Eltern nach einer Trennung den Kindern trotzdem noch so etwas wie «Zusammengehörigkeitsgefühl» vermitteln?
Nach einer Trennung ist man kein Liebespaar mehr, bleibt aber Eltern. Als Paar verändert sich zwar viel, die Grundstruktur der Ursprungsfamilie jedoch löst sich nicht ganz auf. Viele Eltern schaffen den Übergang nicht, weil sie so gekränkt sind, aus Wut oder Schuldgefühlen. Sie fallen in kindliche Muster zurück und sprengen damit den letzten Rest der Familiengemeinschaft auseinander. Dabei mischen oft auch neue Partnerinnen oder Partner und Schwiegereltern mit, was alles noch schwieriger macht. Deshalb ist es wohl selten, dass Trennungen wirklich gut über die Bühne gehen. Aber von Zeit zu Zeit gibt es diese vorbildlichen Fälle.
Haben Sie noch weitere Tipps, wie der Zusammenhalt in der Familie gestärkt werden kann?
Humor tut oft allen gut – man kann damit eingefahrene Situationen durchbrechen. Zum Beispiel wenn ein Kind in der Trotzphase beim Einkauf kurz vor dem Mittagessen quengelnd nach einer Glace verlangt: «Mama, bekomme ich ein Eis?» Statt sich stressen zu lassen, passt es vielleicht zu sagen: «Nein. Aber geh᾽ schon mal vor zur Kasse, werf᾽ dich auf den Boden und schrei᾽ laut rum. Ich hole dich dann ab, wenn du fertig bist.»
Sie sind verheiratet, haben einen Sohn und eine Tochter. Ist Ihnen die Familienverbundenheit gelungen?
Das war oft auch nicht einfach. Nachträglich gesehen vor allem dann, wenn Veränderungen anstanden. Jetzt sind unsere Kinder aus dem Haus. Dass die Familienliebe immer noch wirkt, zeigt sich, wenn wir zusammen sind. Vergangenes Wochenende trafen wir uns bei Verwandten auf einem Familienfest. Wir klinkten uns zwischendurch aus und gingen als Familie spazieren. Plötzlich begann es zu regnen. Die Kinder haben uns Eltern aufgezogen mit unseren elterlichen Vorschlägen zwischen Unterstehen, Abholen lassen, Weitergehen. Am Ende waren wir alle patschnass, marschierten durch den Regen und haben über unsere Situation gelacht.
Reinhard Winter (56) ist Familienexperte, Diplompädagoge und in der Leitung des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen (SOWIT). Er arbeitet in der Jungen- und Männerberatung, in der Jungenforschung sowie in der Qualifizierung von Lehrern und Fachkräften in der Sozialen Arbeit zu Jungenthemen. Der Autor ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Das Buch «Familie. Eine Gebrauchsanweisung. Was Kinder und Eltern zusammenhält» , von Reinhard Winter und Claudia Stahl ist im Beltz Verlag erschienen und enthält viele Beispiele und praktische Tipps. 2015, Fr. 26.90