Geburt / Spardruck
«Die Ärzte verbringen zu wenig Zeit im Gebärzimmer»
Anne Gabriel-Jürgens /13 Photo
Brida von Castelberg, (1952), ist Vizepräsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation und Beirätin der Akademie für Menschenmedizin. Vor ihrer vorzeitigen Pensionierung 2012 leitete die Gynäkologin fast 20 Jahre die Frauenklinik am Zürcher Triemli-Spital.
wir eltern: Frau von Castelberg, die Ökonomisierung der Gesellschaft macht auch vor dem Gesundheitssystem nicht halt. Beunruhigt Sie das als Vizepräsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation?
Brida von Castelberg: Für mich ist klar: Gewinne zu machen im Gesundheitswesen ist unethisch. Es führt dazu, dass die Spitäler in den Wettbewerb um die lukrativen Patienten treten. Oder dass Diagnosen relativ locker gestellt werden. Das sieht man beispielsweise beim Befund Risikoschwangerschaft, der in den letzten Jahren markant zugenommen hat. Klar gibt es mehr ältere und auch mehr übergewichtige Schwangere mit höheren Risiken. Doch ihre Zahl steht in keinem Verhältnis zum Zuwachs der Diagnose.
Welche sind die lukrativen Patientinnen in den Gebärkliniken?
Zuerst mal die Privat- und Halbprivat-Versicherten. Dann sicher alle, bei denen ein Kaiserschnitt gemacht werden kann, ob geplant oder erst, nachdem die Wehen eingesetzt haben. Finanziell uninteressant und entsprechend unbeliebt ist die junge Frau, die positiv eingestellt ist dem Gebären gegenüber, ihr Kind spontan und vaginal auf die Welt bringt, ohne Medikamente, Interventionen oder eine spezielle Diagnose.
Ist die Kaiserschnittrate deshalb in manchen Spitälern überdurchschnittlich hoch?
Ein Kaiserschnitt, der kein absoluter Notfall ist, ist ein Routineeingriff und dauert gerade mal eine halbe Stunde. Es ist eine Frechheit, dass die Sectio höher vergütet wird als eine normale Geburt. Zudem kann man die Indikation für einen Kaiserschnitt steuern.
Das Fallpauschalensystem, auch Swiss DRG genannt, wurde 2012 eingeführt, um die Kosten im Gesundheitswesen durch mehr Effizienz und mehr Wettbewerb zu reduzieren. Seither müssen Pflegende und Ärzte jeden Handgriff dokumentieren, sodass sie mittlerweile deutlich mehr Zeit vor dem Computer als beim Patienten verbringen. Am Ende des Spitalaufenthalts wird die Patientenakte von einem Codierer je nach Diagnose und durchgeführter Behandlung in eine Diagnosebezogene Fallgruppe (DRG) eingeteilt. Diese bestimmt unter anderem, wie hoch die Spitalrechnung ausfällt.
Swiss DRG hat einen weiteren Trend beschleunigt: Einige kleine Regionalspitäler mit weniger als 300 Geburten jährlich haben ihre Gebärabteilungen aus Rentabilitätsgründen geschlossen. Aber auch mittelgrosse Abteilungen mit 400 bis 600 Geburten kommen finanziell unter Druck. Verschiedene Standorte haben sich deshalb zusammengeschlossen, da mit Swiss DRG Abteilungen erst ab 800 bis1000 Geburten jährlich kostendeckend sind. Die Zahl der Kliniken mit jährlich über 1200 Geburten hat sich zwischen 2009 und 2015 von 15 auf 25 erhöht, die Anzahl dortiger Geburten von knapp 30 000 auf knapp 50 000.
Wie meinen Sie das?
Sieht der Arzt auf dem CTG, dass die Herzkurve des Kindes hinuntergeht, hat er bereits ein Argument für einen Kaiserschnitt, obwohl solche Schwankungen während der Geburt durchaus normal sind. Welche Frau würde nicht einwilligen, ein Kind, dessen Herztöne schlechter werden, so schnell wie möglich per Operation zu holen?
Das Sicherheitsbedürfnis der werdenden Eltern wird also ausgenutzt?
Nicht nur. Die Ärzte verbringen zu wenig Zeit im Gebärzimmer. Auch weil sie von den Hebammen nur gerufen werden, wenn etwas nicht gut läuft. So sehen Sie nur die Pathologie und meinen, sie müssten sofort handeln. Jeder Geburtshelfer sollte immer wieder mehrere Stunden neben einer Gebärenden sitzen und das Auf und Ab von Wehen, Atmung und kindlicher Herzkurve miterleben.
Seit der Einführung von Swiss DRG haben Ärzte und Pflegende aber noch weniger Zeit für die Patientinnen, weil der administrative Aufwand zugenommen hat. Was tun?
Kosten-, aber auch zeitsparend wäre ein schnelles, benutzerfreundliches und für alle Spitäler einheitliches EDV Programm. Ausserdem wünsche ich mir folgenden Pilotversuch: Ein Spital erhält im neuen Jahr gleich viel Geld wie im Vorjahr, erfasst aber nur noch die Daten, die relevant sind für die Krankengeschichte und stuft die Patienten in die drei Kategorien leicht, mittel und schwer ein. Am Jahresende schaut man, was sich durch den Zeitgewinn verändert hat. Ich bin sicher, die Zufriedenheit bei Patientinnen und Personal würde enorm zunehmen.
Die Medizin würde wieder menschlicher.
In einer Gebärklinik zeigt sich besonders gut, wie wichtig das ist. Schliesslich geht es hier um mehr als nur um einen medizinischen Vorgang. Eine Geburt ist für die Frau der Start in ein neues Leben. Sie muss sich als Mutter, die für einen kleinen Menschen zu sorgen hat, neu finden. Dies fällt ihr leichter, wenn ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten in den ersten Tagen durch umsorgende Pflege und Anleitung gestärkt wird.
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