Familie | Vererbung
Das hat sie von dir!
Ein Gesicht reicht für drei. Zumindest wer meine Schwester, Mutter und Grossmutter sieht, denkt unwillkürlich an Matroschkas, diese russischen Holz- Püppchen zum Ineinanderstecken. Alte Fotos von meiner Mutter könnten genausogut meine Schwester im 50er-Jahre-Outfit zeigen. Wahlweise im 30er, aber dann ist es Oma. Die Gene, klar.
Warum schlägt bei mir dagegen die väterliche Linie durch? Und weshalb ist mein Töchterchen so beunruhigend ruhig, wo doch spektakuläre Gefühlsausbrüche aller Art in der Familie eine rege gepflegte Tradition sind? Abschreckendes Vorbild? Trotzreaktion? Tiefenentspannte Ur-Ahnen?
Ohne die Suche nach Familienähnlichkeiten und Sätzen wie «Ganz der Papa!» oder «Na, von mir hast du die Matheschwäche nicht», wächst kein Kind auf. Und ebenso gibt es keine Eltern, die nicht manchmal darüber nachdenken, wer der wahre CEO im Leben ist: Erbe oder Erziehung, Gen oder Gesellschaft? Die Wissenschaft tüftelt seit Jahrzehnten an der «Anlage-Umwelt»-Frage herum. Eine endgültige Antwort hat sie bis heute nicht. Nur Näherungswerte.
Das hat Gründe. Zum einen liegt es daran, dass kaum ein Forschungsgebiet ein so schwindelerregendes Tempo vorlegt wie die Genetik. Fast täglich wird Neues entdeckt. Was gestern galt, ist heute alt. Rund 150 Jahre ist es her, dass der Augustinermönch Gregor Johann Mendel durch liebevolles Herumzüchten an den Erbsen des Klostergartens die ersten Vererbungsregeln entdeckte. 1905 werden die Geschlechtschromosomen X und Y entdeckt, die bei der Kombination XX festlegen: Mädchen. Und bei XY: Junge. 1953 wird die DNA, der Bauplan des Lebens, erstmals umfänglich beschrieben, 1997 das Schaf Dolly geklont, sechs Jahre später gilt das menschliche Genom als entschlüsselt …
Die meisten Merkmale sind sehr komplex
Mag für andere Wissenschaften gelten: «Der Fortschritt ist eine Schnecke», gilt für die Genetik: «Der Fortschritt ist ein Speed-Boot». Vorsichtig drücken sich deshalb Wissenschaftler wie Manfred Kayser von der Erasmus Universität Rotterdam aus, wenn sie schildern, was heute erforscht und möglich ist. Zu oft waren in der Vergangenheit Plattheiten darüber zu lesen, was die Genetik angeblich dingfest gemacht habe: das Pessimisten-Gen, das Schwulen-Gen, das Untreue-Gen …
«So simpel ist es dann doch nicht», sagt Manfred Kayser, der als Forensischer Molekularbiologe genetische Kenntnisse dafür einsetzt, Licht in dunkle Verbrechen zu tragen. Etwa anhand von gefundenen Hautschüppchen, Haarfarben oder mit der Rekonstruktion von Gesichtsformen. «Die Färbung von Augen und Haaren können wir tatsächlich bereits relativ genau aus der DNA vorhersagen. Aber bei anderem stehen wir erst am Anfang, die meisten Merkmale sind sehr komplex.»
Viele der besonders steilen Thesen, was ein einzelnes Gen angeblich festlegt, könne man getrost vergessen. Schliesslich hingen die meisten Eigenschaften von vielen Einflüssen ab. Auch von vielen verschiedenen Genen. Allein die Nasenform regeln mehr als ein Dutzend Gen-Varianten.
20 000 Gene, also Abschnitte auf der DNA, dem Träger der Erbinformation, hat der Mensch. Zusammengesetzt sind sie aus vier Basen: Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, kurz A,C,G,T. 3 Milliarden dieser DNA-Bausteine weist das komplette Erbgut auf. Vergleicht man zwei Personen miteinander, ergeben sich etwa bei 0,1 Prozent dieser Bausteine Abweichungen. Klingt wenig, ergibt aber schon 3 Millionen Unterschiede. Das macht jeden Menschen zum Unikat.
«Das Ausmass der Variabilität hat man bis vor Kurzem total unterschätzt», sagt Sven Cichon, Humangenetiker der Universität Basel. «Die Wissenschaft arbeitet mit Hochdruck daran, die variablen Stellen im Erbgut zu identifizieren, die Einfluss auf Krankheiten und Merkmale haben. Doch es ist komplex. Meist müssen viele Varianten zusammenspielen, bevor sie einen sichtbaren Effekt zeigen. Und zur genetischen Veranlagung kommt dann noch der Umwelteinfluss.»
Oder wie Markus Hengstenschläger in seinem Buch «Die Macht der Gene» schreibt: «Gene sind nur Papier und Bleistift, die Geschichte schreiben wir selbst.»
Puzzle mit unendlich vielen Teilen
Doch fest steht: Verschmelzen bei der Zeugung Ei- und Samenzelle, bilden sich aus den 23 Chromosomen der Mutter und den 23 Chromosomen des Vaters die 46 des Kindes. Die DNA des Menschen, sein Bauplan, sitzt in jeder Körperzelle. Wie jedoch der Bauplan abgelesen wird, welche Teile sich verändern, spontan mutieren, durch äussere Einflüsse lahmgelegt werden oder besonders dominant sind, das ergibt ein Puzzle mit unendlich vielen Teilen, bei dem die Wissenschaftler nach und nach ein Teilchen dazulegen und manchmal auch wieder eines herauspulen müssen.
Der zweite wichtige Grund, warum die Diskussion um Anlage oder Umwelt ordentlich in Schwung bleibt, ist der Zeitgeist. Als Reaktion auf den Nationalsozialismus mit seinen inhumanen Rassengesetzen, Eugenik und angeblichen Herrenmenschen war in den 70er-Jahren alles rund ums Thema Vererbung tabu. Stattdessen galt die Devise: Nur die Umwelt zählt. Der Mensch, ein weisses Blatt Papier, das durch Eltern, Lehrer, Politik, kurz: die Gesellschaft beschrieben – oder manchmal auch zusammengeknüllt – wird. Eine Blütezeit der Psychologie – und elterlicher Schuldgefühle.
Anfang der 80er-Jahre schlägt das Pendel in die andere Richtung. Auslöser: die Zwillingsforschung. Vor allem die Studien des Wissenschaftlers Thomas Bouchard aus Minnesota an eineiigen Zwillingen, von denen manche sogar in getrennten Familien aufwuchsen, ergaben, dass die These «Das Erbe ist nichts, die Umwelt ist alles» nicht aufrechtzuerhalten war. Stellten die Forscher bei den Zwillingen doch verblüffende Gemeinsamkeiten in Verhalten und Neigungen fest, die sich beim besten Willen nicht auf Zufall oder Elternhaus zurückführen liessen.
Bekannt geworden ist das Yufe-Stöhr-Beispiel. Jack Yufe und Oskar Stöhr, eineiige Zwillinge, werden als Babys getrennt. Einer wächst in einer jüdischen Familie in Trinidad auf, einer in einer katholischen deutschen Familie. Als die beiden sich 46 Jahre später wieder treffen, weisen die zwei nicht nur den gleichen Intelligenzquotienten auf, sondern tragen auch beide blaue Hemden, Schnauzbart, ein ähnliches Brillenmodell, teilen Hobbys und die Marotte, in Fahrstühlen absonderlich zu husten.
Vor lauter Begeisterung über die verblüffenden Ähnlichkeiten ging zuweilen vergessen, dass die Datenbasis naturgemäss klein war und manche Gemeinsamkeiten, sagen wir mal: die Abneigung gegen Staus, trivial sind. Von da ab hiess es dennoch: Der Mensch ist die Marionette seiner Gene.
Und heute? Weiss man, dass stets beides zusammen wirkt: Anlage und Umwelt. Anlagen liefern die Voraussetzungen und führen auch dazu, eine passende Umgebung aufzusuchen: Sportbegabte finden sich vermutlich häufiger in Turnhallen als Bewegungsmuffel. Dennoch braucht eine Anlage, um sich zu entwickeln, entsprechende Umweltbedingungen. Ohne Zugang zu einem Tennisschläger hätte es Roger Federers Talent verdammt schwer gehabt.
Zudem, so das Forschungsfeld der sogenannten Epigenetik, nimmt die Umwelt ihrerseits wieder Einfluss auf die Gene. So hat etwa der Zürcher ETH-Professor Renato Paro herausgefunden, dass rotäugige Fruchtfliegen weisse Augen bekommen, wenn man die armen Tierchen ungebührlich erhitzt. Sonderbarerweise bekommen die Nachkommen der «Schwitz-Fliegen» ihrerseits auch oft weisse Augen …
Angeboren oder anerzogen? Sowohl als auch. Oder wie der US-Evolutionsbiologe Peter Richerson im «Geo» die Anlage-Umwelt- Diskussion zusammenfasst: «Der ganze Gegensatz ergibt keinen Sinn. Genausogut könnte man fragen, ob die Länge oder Breite eines Rechtecks wichtiger für seine Fläche ist.» Trotzdem: Ist das erblich?
Haare
Dunkle und rote Haare haben eine höhere Wahrscheinlichkeit sich durchzusetzen als blonde. Dennoch können, je nach Vorfahren, zwei dunkelhaarige Elternteile ein blondes Kind bekommen, wenn etwa ein Partner blonde Anlagen hat, die sich aber nicht gegen das dominante «dunkel» durchsetzen konnten. Die Sache ist insgesamt verzwickt, weil gleich mehrere Genvarianten für die Pigmentierung zuständig sind. Die Neigung zur Glatze vererbt übrigens nicht der Papa auf den Sohn, sondern Schuld ist vor allem der Grossvater mütterlicherseits. Grund: Das Gen mit dem grössten Einfluss auf männlichen Haarausfall liegt auf dem X-Chromosom. Und das erben die Männer von ihren Müttern.
Augen
Papa braun (dominant), Mama blau (rezessiv) = Baby braun. So einfach wurde es noch – ganz nach Mendel – vor wenigen Jahren gesehen; und wenn das Baby nicht so recht dazu passen wollte, mancher Pöstler misstrauisch beäugt. Zwar stimmt die alte Augen-Regel in der Mehrheit der Fälle, aber eben nicht immer. Heute weiss man: Die Augenfarbe wird nicht monogen (ein einziges Gen ist zuständig) vererbt, sondern polygen. Ob das bräunlich-schwarze Eumelanin dunkle Augen erzeugen darf oder das Fehlen von Pigmenten – und das reflektierte Licht – für blau erscheinende Augen sorgt, daran sind verschiedene Gene beteiligt. Forscher um Manfred Kayser an der Rotterdamer Erasmus- Universität haben zudem sechs Erbgutbereiche identifiziert und einen DNA-Test entwickelt, mit dem man blaue und braune Augenfarbe mit über 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit bestimmen kann. Ausserdem ist es möglich, dass spontane Mutationen unerwartete Augenfarben hervorbringen. Bei Fliegen zumindest.
Dicksein
Juhu, es ist nicht die eigene Disziplinlosigkeit, die pummelig macht! Auch nicht die starke Zuneigung zu Frittiertem bei starker Abneigung gegen Bewegung. Nein, Schuld hat INSIG2. So stand es zumindest zu lesen. Diese Genvariante sorge für runde Bäuche und Bäckchen. Die Wahrheit aber ist: So einfach kommt man da nicht raus. Ja, es gibt die Veranlagung für eine bestimmte Art der Nährstoffverwertung. Ja, es gibt Gene, die mitbestimmen, wie schnell oder langsam jemand satt ist und ob Essen bei Stress als entspannend empfunden wird. Dennoch sind es aber eher die Essgewohnheiten, die dick machen als die kursierenden Erbinformationen. Zahlen zwischen 30 und 70 Prozent Erbanlagen- Anteil werden gehandelt. «Das genauer zu überprüfen ist schwierig», so Sven Cichon, «zumal viele Untersuchungen auf Selbstaussagen beruhen. Und wir alle kennen diese Leute, die behaupten, sie ässen wie ein Scheunendrescher, aber bevorzugt an Salatblättchen picken. Und die anderen, die Big-Mac mit tüchtig Pommes als ‹nur eine Kleinigkeit› bezeichnen.» Auch die Figur beeinflusst beides: Sippe und Suppe, sozusagen.
Aggression
Vermintes Gelände. Schnell ist man im Segment «Aggression und Gewalt» im Bereich «geborener Verbrecher» und schnell ergäben sich hier fragwürdige Rechtfertigungen für gestrichene Resozialisierungsmassnahmen und psychologische Begleitung. Wenns doch drin steckt … So ist es aber nicht. Die Genetik ist nicht naiv genug, zu vernachlässigen, dass es einen Unterschied macht, ob jemand zwischen Crackdealern in der Bronx aufwächst oder in einem Einfamilienhaus mit Umschwung am rechten Zürichseeufer.
Was die Gene aber tun: Sie stellen eine gewisse Disposition zu aggressivem Verhalten her. Allein das männliche Y-Chromosom und der damit verbundene Testosteronwert erhöhen, statistisch gesehen, die Wahrscheinlichkeit zu aggressivem Verhalten. Das ist Fakt. Ob diese jedoch schlecht oder gut eingesetzt wird, wie etwa beim Holzhacken, munterer Sexualität und Klettern auf der Karriereleiter oder aber in Prügeleien, das ist damit nicht gesagt.
Auch das MAO-Gen taucht in der Bösewicht- Diskussion auf. Irgendwie sorgt es dafür, welche Mengen von Serotonin im Körper zirkulieren. Und die wiederum beeinflussen, wie heftig ein Mensch auf Widrigkeiten reagiert und wie leicht oder schwer es ihm fällt, seine Gefühle zu kontrollieren.
Beeinflusst. Nicht determiniert. Durch Zufall hat der Wissenschaftler Solomon Schnyder noch ein anderes «Gemeinheiten-Gen», identifiziert. Ein Gen, das für Austauschprozesse im Gehirn zuständig ist. Als er, eigentlich um etwas ganz anderes zu erforschen, den besagten Abschnitt der DNA bei Mäusen lahmlegte, bissen die lahmgelegten Tiere ihre Mit-Mäuse über Nacht tot. Was lehrt uns das? Mäuse haben keine Moral, kein Gewissen, keine Kultur. Menschen schon.
Schönheit
Na, das ist ja eine Frage der Definition. Ist Marilyn Monroe schön? Oder eher Audrey Hepburn? Ist Bruce Willis schön, und gilt das auch für seinen oberschenkeldicken Hals? Doch subjektiver Geschmack jetzt mal weggerechnet. Bei der Vererbung ist das vereinfacht so: Bekommen zwei schöne Menschen miteinander Kinder, ist die Wahrscheinlichkeit schöner Nachkommen hoch. Es könnte aber auch sein, dass die zwei Elternteile zwar beide das Merkmal «schön» haben, rezessiv aber auch das Merkmal «hässlich». Es kann also passieren, dass das neue Wesen geradezu kitschig schön wird durch die Kombination schön+schön, oder normal gut aussehend wird durch schön+hässlich oder – wenn alle Stricke reissen – auch hässlich+hässlich eintritt und das arme Kind befremdlich an Gollum erinnert. So jedenfalls – wäre Schönheit monogen, was es nicht ist – legen es die Mendelschen- Erbgesetze nah. Forscher der schottischen Universität St. Andrews behaupten darüber hinaus, dass Väter vor allem ihre Töchter schön machen, ihren Söhnen dagegen oft nur das markante Kinn vererben. Und Töchter werden, ob sie es hören wollen oder nicht, auf die Dauer ihrer Mutter ähnlicher. Schuld sind die Sexualhormone.
Vielleicht kommt daher, als ausgleichende Gerechtigkeit, das Ammenmärchen, Babys glichen stets zunächst dem Vater. Wissenschaftlich ist das nicht zu halten. Studien der Universität Montpellier belegen: Neutrale Testpersonen sehen nicht mehr Ähnlichkeiten mit dem Vater als mit der Mutter. Falls überhaupt welche. Einzig die Mutter meint, im Baby überproportional häufig den Vater zu erkennen. Vielleicht fördert das Papas Familienengagement. Ein fruchtbares Feld für Mutmassungen.
Keine Mutmassung, sondern Tatsache: Ein internationales Forscherteam rund um den Rotterdamer Wissenschaftler Manfred Kayser hat fünf Gene identifiziert, die massgeblich an der Gestaltung der Gesichtsform beteiligt sind. Könnte man da nicht, falls beide Eltern ein fliehendes Stirn-, Quadratschädel- oder Kinnproblem haben, im Dienste der Kinder ein wenig Schicksal spielen, Herr Professor Kayser? Manfred Kayser: «Vielleicht kann man irgendwann ein Gesicht allein aus DNA-Informationen rekonstruieren. Bisher stehen wir aber ganz am Anfang. Und was die Zukunft anbelangt: Ich denke da ausdrücklich nur an die Forensik und das Ermitteln von Straftätern.»
Intelligenz
Der Zankapfel schlechthin. Elterlicher Stolz, Unterricht, Selbstwirksamkeits-Gefühle, ganze Schulsysteme und viel Geld hängen an der Antwort auf die Frage: Wie stark ist Intelligenz erblich? Denn falls sie biologisch festgelegt ist, welchen Sinn macht dann Förderung? Und falls sie es nicht ist, hat dann jeder bei entsprechender Unterstützung das Zeug zum Nobelpreisträger?
Das Intelligenteste zur Intelligenz stammt wohl vom Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Er geht von einem Verteilungsschlüssel aus: 50 Prozent der Intelligenz seien vererbt, 30 Prozent gingen auf Kosten von Umwelt und Erziehung und die fehlenden 20 Prozent seien einfach natürliche Schwankungen. Rechnerisch hiesse das: Ein durchschnittlich begabtes Kind mit einem IQ von 100 könnte durch ambitionierte Eltern, engagierte Lehrer, kurz ein optimales Umfeld, auf einen IQ von 115 gebracht werden. Einer Matura stünde nichts im Weg. Das gleiche Kind, vernachlässigt und in schwierigen Verhältnissen, könnte aber auch 15 Intelligenzpunkte einbüssen. Es läge damit bei 85 und würde das Label «Lernschwäche» verpasst bekommen. Dreissig Prozent Umwelt klingt wenig, bestimmt jedoch deutlich in welche Richtung ein Leben driftet.
Sicher ist, die Gene stellen das Material mit dem sich bauen lässt. Und sicher wahr ist auch der schöne Satz von Sabina Gallati, Humangenetikerin am Inselspital Bern: «Zumindest Eltern kluger Kinder glauben felsenfest an die sehr hohe Vererbbarkeit der Intelligenz.»
Alkohol
Richard Burtons Vater war Alkoholiker, Richard Burton war Alkoholiker. Hat er unbewusst seinen Vater imitiert, obwohl er bei seinem Ziehvater aufwuchs? Oder gibt es ein Säufer-Gen? Nun ja. Wir sagen: Augen auf beim nächsten Familienfest! Zwillingsstudien haben in der Tat ergeben, dass eineiige Zwillinge deutlich häufiger gleich beide ein Alkoholproblem aufweisen als das der Fall ist, wenn ein Teil eines zweieiigen Zwillingspaares zu viel trinkt. Wissenschaftler des nationalen Genomforschungsnetzes Deutschland haben darüber hinaus festgestellt, dass gewisse Varianten des Gens CRHR1 begünstigen, dass deren Träger zwar nicht häufiger, dafür aber wesentlich mehr trinken als andere. Mäuse, bei denen an diesem Gen herumgemauschelt worden war, neigten jedenfalls dazu, sich in jeder Stresssituation gehörig eins hinter die Schnurhaare zu kippen. Gleichfalls soll erblich sein, wie viel Alkohol vertragen wird. Männer sind härter im Nehmen als Frauen, und am wenigsten sollen Japaner vertragen. Offenbar gibt es Ethnie bedingte Fähigkeiten, Alkohol in der Leber abzubauen. Ein ähnlicher Mechanismus wie bei der Verbreitung von Lactose-Intoleranz, nur hochprozentiger.
Temperament
Hat Dean Hamer, Molekularbiologe am National Institute of Health in Bethesda und Finder des dubiosen «Schwulen-Gens» recht mit seinem Statement: «Bei einigen Aspekten der Persönlichkeit haben Sie genauso viel Wahlfreiheit wie bei der Form der Nase oder der Grösse ihrer Füsse.»? Ausser auf das Gen zur sexuellen Orientierung will der Biologe auch auf ein Gen für Ängstlichkeit und auch auf eines für «Novelty seeking», Wagemut, Neugier und Abenteuerlust, gestossen sein.
Zumindest sollen diese Bereiche des Erbgutes ein bestimmtes Angst- beziehungsweise Risikoverhalten begünstigen. Versuche mit Rhesusäffchen des Persönlichkeitsforschers Stephen Suomi vom National Child Health and Human Developement Institut im Bundesstaat Maryland legen dagegen eine andere Perspektive nahe. Gehemmt geborene Äffchen, die von besonders liebevollen Adoptiv-Mamas grossgezogen werden, entwickelten sich zu affentypisch extrovertierten Tierchen und oft sogar zu mutigen Rudelführern. Bei Menschen ist es zudem so, dass ein Baby mit einem angeborenen Temperament in eine Familie hineingeboren wird, in der man mit diesem oder jenem Temperament besser oder schlechter umgehen kann. Und jedes Kind in einer Familie wird versuchen, seine individuelle Nische für sein ganz eigenes Temperament, seine Talente, seine Persönlichkeit zu finden.
Musikalität
Auf 30 bis 70 Prozent wird der genetische Anteil für Musikalität geschätzt. Ist allerdings kein Klavier vorhanden oder keine Gelegenheit sich musikalisch auszuprobieren, wird es nichts mit der Musikalität. Selbst Mozart wäre ohne Zugriff auf Klavier und Geige aufgeschmissen gewesen. Und hätte er nicht zudem geübt, geübt und nochmal geübt, gäbe es keine Zauberflöte. Trotzdem gilt: Ausnahmetalent hat man. Oder nicht.
Mimik
Mama zieht die Nase kraus, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Die Tochter bei den Wörtern «Aufräumen» und «Uffzgi» gleichermassen. Abgeschaut oder angeboren? Angeboren wie Wissenschaftler der Universität Haifa herausgefunden haben. Aufschluss gab die Beobachtung der Mimik blinder Kinder. Auch sie zogen – besonders bei negativen Gefühlen – signifikant häufiger das gleiche Gesicht wie Mama oder Papa. Obwohl sie es nie gesehen hatten.
Religiosität
Die Suche nach vererbter Religion mutet eigenartig an. Klar ist der Gebrauch von Weihnachtsbaum, Gebetteppich oder Chanukka- Kerzen anerzogen.
Möglicherweise erblich ist dagegen die Neigung zu einer gewissen Gläubigkeit. Das zumindest legen Studien des Londoner Genetikers Tim Spector nahe. Er will bestimmte Varianten des Gens VMAT2 entdeckt haben, die dafür sorgen, dass deren Träger deutlich häufiger Übernatürliches für möglich halten. Will man das glauben? Hängt von VMAT2 ab.
Krankheiten
Brustkrebs und Diabetes 2, Mukoviszidose, Phenylketonurie, Parkinson, Rot-Grün-Schwäche, Trisomie und Schwerhörigkeit: Über 4000 Krankheiten sind genetisch bedingt. Jedes 10. Kind, das vor seinem 16. Geburtstag stirbt, ist Opfer defekter Gene. Übertriebene Angst und übertriebene Hoffnung liegen selten so nah beieinander wie bei genetisch bedingten Erkrankungen.
Sabina Gallati, Humangenetik-Professorin an der Kinderabteilung des Inselspitals Bern, hat täglich mit ihnen zu tun: den kranken Kindern und den genetische Zauberkunststücke erhoffenden Eltern. «Aber man muss klar sagen», so Gallati, «heilbar sind bislang die wenigsten genetisch bedingten Krankheiten.» Dennoch sei die korrekte Diagnose das A und O. «Ist der Defekt erkannt, kann mit der passenden Therapie viel für den Patienten getan werden.» Phenylketonurie- Patienten müssen beispielsweise niemals irgendein Leiden zeigen, wenn sie eine entsprechende Diät einhalten. Bei vererbter Schwerhörigkeit kann die Ausbildung falscher Hörmuster im Hirn durch frühes Eingreifen verhindert werden. Ein Kind mit diagnostizierter «Rot-Grün-Schwäche» wird nicht länger für störrisch gehalten, nur weil es nicht sagen kann, welche Farbe nun dieses Gummibärchen hat. Und: «Eltern fühlen sich oftmals entlastet, wenn klar ist: Das ist nicht ihre Schuld.»
Wichtig beim Umgang mit genetischen Erkrankungen ist die Unterscheidung zwischen «wird auf alle Fälle krank» und «hat eine Disposition zu erkranken». Nicht jeder, der eine Anlage geerbt hat, erkrankt. Brustkrebs beispielsweise ist eine genbedingte Krankheit. Dennoch tragen von 1000 Brustkrebs-Patientinnen nur 7 die erblichen Brustkrebs-Gene. Viele genetische Mutationen entstehen einfach spontan – wie etwa die meisten Typen der Trisomie 21 – manche entstehen schlicht durchs Alter.
Und manche Zivilisationskrankheiten haben uns unsere Ahnen eingebrockt. Vielleicht die Neandertaler. Diabetes 2 zum Beispiel. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es ein so stetes und reichliches Nahrungsangebot wie heute. «Es war also vor tausenden von Jahren möglicherweise vorteilhaft, zu denen zu gehören, die genetisch bedingt einen erhöhten Zuckerspiegel im Blut hatten», erklärt der Basler Genetiker Sven Cichon. «Denn die mit dem höheren Zuckerwert hatten wohl auch in Hungerzeiten noch mehr Energie.»
Die Hungerzeiten sind heute – bei uns – ausgestorben, der einstige mutmassliche Vorteil «hoher Blutzucker» wird zum Nachteil.
Macht es also Sinn, seine Gene oder die der Kinder, prophylaktisch bei umstrittenen Genom-Analyse-Firmen auf etwaige Krankheitsdispositionen hin durchscannen zu lassen? Macht es Sinn zu erfahren, dass die Wahrscheinlichkeit für Alzheimer hoch ist oder vielleicht in der eigenen Zukunft Osteoporose, Migräne und Schlaganfall warten?
«Nein», Sabina Gallati ist da entschieden deutlich. «Wissen ist kein Selbstzweck. Wer alles wüsste, hätte wohl kaum noch den Mut zu leben.»
Genetische Beratungsstellen Schweiz
Bern: [www.kinderkliniken.insel.ch/kiheil-humangenetik.html] (http://www.kinderkliniken.insel.ch/de/kinderkliniken/kinderheilkunde/kiheil-humangenetik/)
Schlieren: [www.genetikzentrum.ch] (http://www.genetikzentrum.ch/);
[www.stiftung-seltene-krankheiten.ch] (http://www.stiftung-seltene-krankheiten.ch/)
Zürich: www.medgen.uzh.ch