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Zwischendurch für Grosse
Als Kind setzte ich mich nach der Schule jeweils auf die lange Seite unserer Eckbank im Wohnzimmer, neben mir Neni, mein bester Freund vom Haus gegenüber, vor uns ein Teller mit Apfelschnitzen, die wir, bevor wir sie in den Mund steckten, jeweils in ein Häufchen Zucker drückten. (Die Versuchung ist gross, an dieser Stelle zu einem Vortrag anzusetzen, zu welch absurden Diskussionen die gelegentliche Verabreichung von gezuckerten Apfelschnitzen an Kinder heutzutage führen kann. Aber das machen andere besser als ich.)
Die Apfelschnitze also. Manchmal waren es auch zwei Reiheli Nussschoggi auf einer Scheibe Ruchbrot. Zvieri: Eine tolle Sache, keine Frage. Doch während wir gross wurden und stark, fiel die Zwischenmahlzeit an unserer Seite in sich zusammen, schrumpfte, bis von ihr irgendwann nur noch ein Plastikbecher mit Automatenkaffee drin übrigblieb. Und essen wir heute Apfel, dann selbstverständlich ohne Zucker und am Stück, achtlos, beim Scrollen durch die Inbox.
Es sei denn natürlich, wir ziehen nach Portugal. Denn hier, am westlichen Ende Europas, ist dem Zvieri ein Leben weit über jede Kindheit hinaus beschieden. Hier darf es alle beglücken, die gegen fünf gerade Hunger haben, ob sie acht Jahre alt sind oder achtzig. Hier nennt es gar ein Verb sein eigen, das sollen ihm seine Kollegen aus dem deutschen Sprachraum erst einmal nachmachen: «He, lass uns zvieren!» – «Bitte?» – «Na, imbissen halt.» – «Okee?» – «Brotzeiten?» Das Wörterbuch versucht dem portugiesischen «lanchar» mit «zwischendurch essen» gerecht zu werden, den «Lanche» selbst übersetzt es mit «Nachmittagskaffee» oder «Imbiss».
Das ist nicht falsch und trifft es trotzdem nicht. Denn der Lanche ist ein bisschen wie die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr oder eine Reise im Flugzeug. Man ist nicht mehr da und auch noch nicht dort, die Verantwortung macht kurz Pause. Die Schule ist aus, aber die Hausaufgaben können warten. Der Arbeitstag ist zu Ende oder fast, der Haushalt, das Nachtessen, ja, ja, später. Und so setzt man sich zuerst einmal an den Küchentisch oder macht im Café halt, das gerade am Heimweg liegt, bestellt ein Croissant und lässt es mit Schinken und Käse belegen, beisst in eine dieser dicken Toastscheiben, die auf beiden Seiten mit salziger Butter bestrichen sind. Dazu trinkt man Milchkaffee oder kalte Schokomilch aus der Glasflasche, vielleicht auch einen frischgepressten Orangensaft. Man denkt dabei ein bisschen nach oder auch nicht, unterhält sich über Unwichtiges, aber Unterhaltsames, lacht, schaut gedankenverloren ins Leere, dreht ein Zuckerpäckchen zwischen den Fingern.
Und natürlich besteht der Lanche auch hier manchmal einfach aus einem Espresso, kurz und schwarz und in kleinen Schlückchen getrunken, stehend, am Tresen. Aber er kommt sicher nicht im Plastikbecher.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.