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Fremd
«Fühlst du dich nicht fremd?», fragte meine Tante aus Zürich kürzlich am Telefon. Gut ein halbes Jahr lebte ich nun mit meiner Familie in Lissabon, aber darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Alle Pflichten und Küren des Mutterlebens hatten sich in den letzten Monaten so dicht aneinandergereiht, dass mir kaum Zeit blieb, irgendeinen Gedanken zu Ende zu fassen und sei es die Frage, ob ich an diesem Morgen eigentlich geduscht hatte oder ob das schon einen Tag her war. Oder zwei? Aber nun fielen mir doch ein paar Bemerkungen ein, die mich jeweils daran erinnerten, dass ich nicht so war wie die anderen:
«Hat dein türkischer Vater keine Probleme damit, dass dein Mann aus Portugal kommt?»
«Dürfen deine Kinder eigentlich Salami essen?»
«Trägt deine Mutter ein Kopftuch?»
«Du sprichst unsere Sprache aber wirklich gut!»
1) Mein Vater wünscht sich, man höre und staune, in erster Linie, dass seine Tochter mit jemandem verheiratet ist, den sie liebt und glaubt, dass dies mit Nationalitäten wenig zu tun hat.
2) Die Frage nach der Salami stellte mir eines Nachmittags jemand an einem Picknick, während ich gerade an meinem Schweinskotelett kaute. Wenig später wollte dieselbe Person wissen, ob ich als Tochter eines Muslimen mit meinen Söhnen den Ramadan einhalte; ihr wisst schon, der Fastenmonat, an dem man tagsüber nichts isst, erst recht kein Schweinskotelett.
3) Meine Mutter trägt kein Kopftuch, weil sie Schweizerin ist und katholisch. Aber selbst wenn sie eines tragen würde, ist es mir schleierhaft, was daran interessant ist. Noch viel weniger verstehe ich, wenn im Bus wieder einmal ein alter Mann eine Jugendliche anfaucht, nur weil sie ihr Haar mit einem Stück Stoff bedeckt: Beeinträchtigt dieses in irgendwelcher Art die Sicht des Mannes? Seinen Fahrgenuss? Die Qualität seines Sitzpolsters? Also.
Zum Kompliment zu meinen Sprachkenntnissen muss ich etwas ausholen. Denn diese Bemerkung widerspiegelt, ebenso wie die anderen davor, mitnichten meine Erfahrungen als Ausländerin in Portugal. Hier scheint es niemanden zu interessieren, woher ich komme, und es wird dereinst hoffentlich auch den Kollegen und Arbeitgebern meiner Söhne schnurz sein, dass deren Mutter keine Portugiesin ist. Nein, zu meiner Herkunft wurde ich bisher ausschliesslich in der Schweiz befragt, im Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Deshalb:
4) Ja, ich spreche tatsächlich gut Deutsch. Es ist nämlich meine Muttersprache.
Es sind diese Fragen und Bemerkungen, die Schweizer Söhne und Töchter von Migranten immer wieder aus der Selbstverständlichkeit stossen, mit der sie dort ihren Alltag leben. Erstaunlich, wie uns das Fremde einfach zugewiesen wird. Es ist ein wenig wie bei diesem Ratespiel, bei dem einem ein Post-it an die Stirn geklebt wird und man dann erraten muss, welche Person man für die anderen gerade ist.
Also: Wer sind wir?
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.