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Die böse, böse Ganztagsschule
Falls ihr es noch nicht wusstet: Norbert Blüm will eure Kinder retten und die Kindheit an sich gleich mit dazu.
Und der ehemalige deutsche Arbeits- und Sozialminister weiss auch ganz genau, wem er dafür an den Kragen gehen muss. Der Fremdbetreuung von Kindern und insbesondere der Ganztagsschule. Weil man in solchen Einrichtungen nicht fürs Leben lernt und die wichtigen Dinge ganz woanders beigebracht bekommt.
«Moment!» werden sich die regelmässigen ZEIT Leserinnen und Leser unter euch sagen. Mit dem Programm tingelt er doch spätestens seit 2012 durch die Lande. Das stimmt natürlich, aber das ist ja kein Grund, die ollen Kamellen von damals nicht wieder aufzuwärmen und «Heiss und fettig!» zu rufen – vielleicht interessiert es ja jemanden.
«Warte mal!» werden die Geschichtsbewussten unter euch ausrufen. «Norbert Blüm alias Rente-ist-sicher-Nobbi? Ist das nicht der, der 1997 mit ein paar anderen Nachtjacken gegen die Strafbewehrung der Vergewaltigung in der Ehe gestimmt hat, und für den homosexuelle Paare keine Familie sind?»
Jap, genau der ist es. Eben dieser Norbert Blüm hat die moderne Gesellschaft aber sowas von durchschaut: Frauen haben ihrem Ehemann gefälligst sexuell zu Diensten zu sein; Vergewaltigungen gibt es in Ehen nämlich nicht. Was Familie ist, bestimmen Christdemokraten, die Bürgern ihre Rechte vorenthalten und immer noch nicht kapiert haben, dass auch heterosexuelle Beziehungen nicht zwingend zu Kindern führen. Und früher war sowieso alles besser mit der Kindererziehung. Da sind Norbert und seine Homies noch mit dem Bollerwagen durch … na was auch immer gefahren, jedenfalls war das alles viel echter.
Das Schlimme daran ist, dass Blüm in einigen Punkten Recht hat, mit seiner Kritik aber einfach nicht in der Gegenwart anzukommen vermag. Es stimmt: Kinder haben heutzutage kaum Entfaltungsmöglichkeiten und Spielräume. Sie werden eingeengt, bevormundet und für inkompetent erklärt. Warum eigentlich? Das hat nicht zufällig was mit der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse ihrer Eltern zu tun und dem Flexibilisierungszwang, dem sie unterworfen werden? Mit Kinderarmut, Perspektivlosigkeit und ständiger Verunsicherung. Es würde nicht vielleicht Sinn machen, Schulen den Rücken zu stärken, statt ihnen in denselben zu fallen, weil sie ja einen Grossteil der notwendigen anstehenden Integrationsarbeit leisten müssen?!
Hin und wieder wäre ein kleiner Realitätscheck ganz hilfreich. Dann klappt es auch mit der Kritik.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.