Erkennen: Aus 1 mach 2. Zum Drangewöhnen geht aber die Trennung gaaanz langsam. Entbunden mag das Kind sein, gebunden ist es noch Jahre an die Mutter. Ein Schritt nach dem anderen.
<<Die Biologie steht eben schon mal quer zur Ökonomie.>>
Zwar sind Mutter und Kind nach der Geburt erkennbar zwei verschiedene Menschen, das Baby allerdings ist bis zum Alter von 18 Monaten kognitiv nicht in der Lage, sich als etwas von Mama Getrenntes wahrzunehmen. Stillende Mütter empfinden das oft ähnlich. Warum? Weil die Biologie das clever eingerichtet hat. Schliesslich geht Leben nur mit Nachkommen weiter. Und eben dieser Nachwuchs hat nur mit engster Bindung an Mama eine Überlebenschance. Wahrscheinlich deshalb verlieben sich Mütter in ihr Kind. Nicht zwingend sofort, aber innerhalb der ersten drei Tage nach der Geburt. Nie fliesst mehr vom Liebes- und Bindungshormon Oxytocin durch Mutters Adern als innerhalb dieser entscheidenden ersten 72 Stunden, schreibt die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy in ihrem Buch «Mutter Natur». Mutterliebe, so die Verhaltensforscherin, treibe zwar nicht bei jeder Mutter gleich nach der letzten Presswehe üppigste Blüten, aber zeitverzögert funktioniert der Hormontrick der Natur meist doch.
Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen haben festgestellt: die sensible, oxytocingeflutete, kurze Phase nach der Geburt ist entscheidend, wie eng sich Mutter und Kind aneinander binden – oder eben nicht. Schafe, denen ihr Lamm nach der Geburt weggenommen und einen Tag später zurückgegeben wurde, behandeln es wie ein fremdes Junges. Babys, die nach der Geburt vertauscht worden waren, liessen sich nach einer Woche kaum noch zurücktauschen, so eine Studie des israelischen Arztes Marshall Klaus. Die Bindung der Mütter an das fremde Baby war schon zu fest geworden. Selbst jungfräuliche Rättinnen, denen das Blut frischgebackener Rattenmütter injiziert wurde, umhegten, fütterten und putzten hingebungsvoll sämtliche Rattenbabys, die sie im Käfig nur finden konnten. Menschenaffenmütter tragen ihr Neugeborenes Tag und Nacht mit sich herum, beissen jedes Rudelmitglied, das nach dem Kleinen greift und umsorgen das Junge sechs bis sieben Jahre lang rund um die Uhr. Typisch unterentwickelter Klammeraffe? Übertriebene Affenliebe? «Absolut nicht», sagt Trix Cacchione, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz: «Dass wir das heute argwöhnisch betrachten, ist eine rein kulturelle Sache.» In anderen Ländern trügen Mütter ihre Kleinkinder am Körper oder stillten bis zum Alter von drei Jahren. «Es ist unsere westliche Kultur der Autonomie und Individualität, die dauernd auf der frühen Ablösung und Unabhängigkeit herumreitet. » Dabei sei weder ein Zweijähriges mit Angst im eigenen Bett zu schlafen ein pathologischer Fall, noch eine Mutter, die mit Tränen zu kämpfen hat, wenn sie ihr Kind an der Krippentür abgibt. «Ich weiss, das steht quer zum Trend und passt nicht zu den Anforderungen der Ökonomie, aber die Biologie ist eben auch noch da», sagt Trix Cacchione. Und die beiden, Ökonomie und Biologie, stünden schon mal im Widerspruch. Heraus komme aus dem Dilemma nur, wer das individuelle Bedürfnis nach Nähe respektiere. Bei sich selbst und beim Kind. «Fakt ist: Nur ein sicher gebundenes Kind, das fest auf seine Bezugsperson vertraut, wird genug Selbstbewusstsein und Mut entwickeln, sich zu lösen.» Ja, aber gilt nicht derzeit die Übermutter als eine Art Darth Vader der Erziehung? Sind nicht Helikopter-Eltern das hipste Feindbild der Pädagogik? «Ach was», findet Trix Cacchione: «Eine Mutter hat den natürlichen Drang, wissen zu wollen, ob es dem Kind gut geht. Wenn sie sich aber vergewissert hat, dass alles in Ordnung ist, dann sollte sie sich zurücknehmen. Entscheidend ist nicht das Umfeld, sondern was das Kind signalisiert und die Mutter möchte.»